Jacques Herzog und Pierre de Meuron sind Träger des Pritzker Preises (2001), dem „Nobelpreis“ der Architektur. Sie errichteten das Stadion für die Olympischen Spiele 2008 in Peking, die Elbphilharmonie in Hamburg, die als neues Wahrzeichen der Stadt gepriesen wird, und Museen wie das New de Young Museum in San Francisco oder die Tate Modern in London (Abb.1): Leitbauten der zeitgenössischen Architektur.1
Herzog & de Meuron gehören zur exquisiten Riege der aktuellen Stararchitekten. Von ihren Kollegen in der ersten Liga der Architekten wie Frank O. Gehry, Peter Zumthor oder Tadao Ando, unterscheidet sie, dass es scheinbar keine regelmäßig wiederkehrenden Stilmerkmale in ihrer Architektur gibt. Müssten in ein paar hundert Jahren Kunsthistoriker Gebäude um das Jahr 2000 Architekten zuschreiben, wäre es nicht einfach einen „Herzog & de Meuron“ über Charakteristika ihres Schaffens, ihren individuellen „Pinselstrich“ zu erkennen. Bei vielen anderen zeitgenössischen Kollegen scheint dies leichter zu fallen. Wer einmal das Guggenheim Museum in Bilbao von Gehry (Pritzker Preis 1989) gesehen hat, wird durch die immer wiederkehrende Formsprache der gedrehten und geknickten Räume leicht andere Gebäude des dekonstruktivistischen Architekten erkennen. Auch die schnörkellosen, atmosphärischen Gebäude eines Peter Zumthor (Pritzker Preis 2009), die meist aus edlen Materialien erbaut sind, lassen sich in der Regel unschwer ihrem Entwerfer zuordnen, wie das vor kurzem fertiggestellte Kolumba Museum in Köln veranschaulicht. Als Tadao Andos (Pritzker Preis 1995) Stilmerkmale lassen sich das Nutzen von Sichtbeton und das Bauen mit einfachen geometrischen Formen nennen, wie man sie am Meditation Room auf dem Gelände der UNESCO in Paris sehen kann. Herzog & de Meurons Stil in wenige Sätze zu fassen, fällt hingegen schwer. Es entsteht der Eindruck, dass in ihren Büros immer wieder innovative architektonische Ideen entwickelt werden, meist ohne Ähnlichkeiten zu ihren Vorgängerbauten. Es stellt sich die Frage, wie dem Baseler Architektenduo diese vermeintliche ‚Stillosigkeit‘ gelingt. Könnte es sein, dass es Herzog & de Meuron durch einen Formfindungsprozess, welcher es ihnen ermöglicht ihre Gebäude an die Gegebenheiten wie den Bauort, den umgebenden Raum und die Zeit gekonnt anzupassen gelingt, ihre Aufträge mit individuellen Bauten zu beantworten? Schaffen sie Innovationen durch Adaption?
Um dieser Frage nachzugehen, lohnt es sich, den Weg des Entwurfs und der Formfindung bei Herzog & de Meuron näher zu beleuchten. Ihrem Bekanntheitsgrad entsprechend ist die Literatur umfangreich. Neben unzähligen Zeitungsartikeln und Aufsätzen gibt es zwei monografische Reihen.2 Aussagen von den Architekten selbst existieren in Form von Aufsätzen, verschriftlichten Reden und Interviews.3 Der Prozess der Annäherung an ein Projekt nimmt in vielen Quellen erheblichen Raum ein. In Interviews wird oft mehr über den Werdegang einer Arbeit als über das endgültige Resultat gesprochen.4 In Ausstellungen werden verworfene Modelle präsentiert und auch die allerersten Skizzen sind in Hochglanzkatalogen abgedruckt.5 Herzog & de Meuron erwecken den Anschein, als wollten sie ihren Schaffensprozess dem Publikum offenlegen. Dies ist insofern verwunderlich, als Adrian von Buttlar bemerkt, dass ihm kein Fall bekannt sei, in dem ein Künstler daran interessiert sei, die Genese seines Werkes derart detailliert offen zu legen und dem Werk damit die Aura eines Geheimnisses zu nehmen.6 Herzog & de Meuron tun jedoch genau dies, indem sie Fotografien zu einzelnen Schritten des Entwurfs zur Publikation freigeben.7
Die Schwerpunktsetzung auf den Entwurfsprozess scheint maßgeblich ihr Image zu prägen. So sammeln und archivieren Herzog & de Meuron alles, was im Entwurfsprozess entstanden ist und stellen diese Modelle, Materialrecherchen und Entwürfe auch aus.8 Somit erlauben sie uns, einen Einblick in ihre Arbeit zu nehmen, wobei man sich stets bewusst sein sollte, dass es sich bei Herzog & de Meuron auch um ein weltweit operierendes Unternehmen handelt, das Informationen aus ihren Architekturbüros bewusst lanciert.
Mit einem kritischen Blick werden in der vorliegenden Untersuchung fünf Arbeitsschritte der Formfindung bei Herzog & de Meuron eruiert werden. Im Folgenden werden die oft beschriebenen Methoden erstmals systematisch gegliedert und in einen architektur- und kunsthistorischen Rahmen eingebunden.
Recherche: Der Ort, seine Geschichte und Umgebung
Als erster Schritt findet bei Herzog & de Meuron eine Recherche über den Bauplatz (Ort), seine Geschichte und Umgebung statt. Der Ort wird von den Planern affektiv aufgenommen. Herzog spricht von Empfindungen, die von der Topographie und den umliegenden Gebäuden erzeugt werden und dann zusammen mit anderen Faktoren ein Gesamtbild ergeben müssen (Abb.2).9 Es geht also nicht nur um die sichtbaren Gegebenheiten des Ortes, sondern auch um die nicht sichtbaren, die gefühlten Umstände.
„Unser Interesse an der unsichtbaren Welt liegt darin, für sie in der sichtbaren Welt eine Form zu finden, d.h. das trügerische vertraute, sichtbare, äußere Erscheinungsbild aufzubrechen, zu zerlegen, zu atomisieren, bevor wir erneut damit umgehen können.“10
Als Beispiel lässt sich das Gefühl von Größe nennen, das sie bei der Besichtigung der Turbinenhalle empfanden, die sie zur Tate Modern umbauen sollten (Abb.1). “Our strategy was to accept the physical power of Bankside’s massive mountain-like brick building and to even enhance it rather than breaking it or trying to diminish it.”11
Befindet sich der Bauplatz eines Projektes nicht in der Stadt, sondern in einer unbebauten Umgebung, findet die Landschaft Eingang in den Entwurf. So gab das Meer um die Insel Teneriffa die Anregungen für die Gestaltung der Fassade des Centro Cultural in Santa Cruz.12 Die Architekten betonen, dass es ihnen bei der Einbeziehung der lokalen Gegebenheiten nicht um einen kontextualistischen Ansatz geht, sie spiegeln nicht eins zu eins den Ort, seine Geschichte oder die Topographie wider, sondern ihr Ansatz ist vielmehr konzeptuell. Sie sind nicht an einem narrativen oder mimetischen Ansatz interessiert,13 d.h., sie würden nicht ein Hafenzollgebäude in Form eines Schiffes bauen, sondern vielmehr versuchen, die Idee eines Schiffes zu fassen und diese in die Idee eines Gebäudes zu transferieren. Die Recherche über den Ort, seine Geschichte und Umgebung führt bei Herzog & de Meuron mit Hilfe ihrer eigenen Erfahrungen und Bilderwelt zu einer ersten Idee des Gebäudes (Abb.3). Die Analyse des Vorhandenen wird sofort in architektonisches Denken transferiert. Diese erste Richtungsweisung dient dem Team als Rahmen und Leitfaden in den folgenden zwei Arbeitsschritten der Formfindung.
Dialog und Zusammenarbeit
Oft führt das Architektenduo als einen weiteren Schritt der Formfindung ihre Arbeit im Dialog und in Zusammenarbeit mit Kollegen, Künstlern und Wissenschaftlern weiter. Herzog & de Meuron kennen sich seit Studienzeiten und gründeten ihr Architekturbüro 1978 als Partner. Sie entwickeln ihre Projekte immer gemeinsam im Gespräch. Im Laufe ihres Schaffens weiteten sie den Dialog zu Diskussionen mit mehreren Personen aus und suchten die Zusammenarbeit mit verschiedenen Berufsgruppen. Oft arbeiten sie mit Künstlern zusammen. Die Arbeit mit Künstlern begann mit dem Zusammentreffen mit Joseph Beuys im Jahre 1978 und wurde unter anderem fortgeführt mit Thomas Ruff, der die Motivauswahl für die Fassadenbedruckung der Fachhochschulbibliothek in Eberswalde (Abb.4)14 übernahm. Bei der Planung des Olympia Stadions in Peking arbeiteten Herzog & de Meuron mit dem chinesischen Künstler Ai Wei Wei zusammen, der ihnen half, einen Zugang zur chinesischen Kultur zu finden.15 Herzog schätzt am Künstler das Wissbegierige und die Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen, Eigenschaften, die er bei vielen Architekten vermisst. Der Architekt sei oft zu eingeschränkt durch verschiedene Vorgaben, der Künstler könne seine Gedanken freier entfalten. Herzog:
„Ich glaube einfach, daß ein Künstler ein kreatives Potential hat und sich damit das kreative Potential insgesamt vergrößert und daß dann Möglichkeiten drin sind, in eine Tiefe oder in eine Richtung zu wirken, welche der konventionellen Architektur verschlossen bleiben.“16
Aus Herzogs Aussagen17 kann man schließen, dass das Architektenteam über den Dialog mit Künstlern Gedankenflüsse beweglich halten möchte, um in Zusammenarbeit mit ihnen einen sensiblen Zugang zu aktuellen Themen zu bekommen.
Architektur heute
Eine weitere Methode auf dem Weg zu einem Gebäude ist die stetige Frage „Was ist Architektur?“18 Es geht Herzog & de Meuron nicht um definitive Lösungen in der Architektur. An diese glauben sie nicht. Sie versuchen vielmehr ihre Gedanken in Bewegung zu halten. So sagen Herzog & de Meuron:
„Grundsätzlich wenden wir uns gegen alle Ideologien. (…) Wir interessieren uns für Ideen nicht für Ideologien. Ideen sind offener, sie bieten Spielraum für Gestaltung, weil man jeweils individuelle Strategien sucht und sich auf einzelne Situationen einläßt.“19
Sie fragen bei jedem Projekt erneut: Was bezweckt Architektur? Woher kommt sie? Was ist Architektur in der heutigen Zeit?20 Es ist ein theoretischer Ansatz, der nicht unbedingt direkt mit dem Ort oder dem einzelnen Projekt im Speziellen in Verbindung stehen muss. Jedoch kann die Bauaufgabe Reflexionen über den Zweck der selbigen hervorrufen. Diese Fragen können neue Anregungen im Entwurfsprozess anstoßen. Das Nachdenken über ein architekturtheoretisches oder -geschichtliches Thema und die Auseinandersetzung damit, kann sich in Entwürfen niederschlagen. Adaptiv ist dieser Schritt des Entwurfsprozesses in dem Sinn, dass er aktuelle Fragen an die Architektur widerspiegeln kann.
Gelenkter Zufall
Weg von einem theoretischen Ansatz hin zu praktischen Methoden führt der nächste Schritt: Das spielerische Basteln am Modell. Eine ihrer letzten großen Ausstellungen Herzog & de Meuron. No.250. Eine Ausstellung, zu sehen zwischen 2004 und 2006 in Basel, London und München,21 wurde dominiert von Tischen, auf denen Modelle ihrer Projekte ausgestellt wurden. Der Besucher konnte erkennen, wie eine Form sich langsam von einem Modell zum nächsten entwickelt. Ein Trial-and-Error Prozess, bei dem verschiedene Ansätze ausprobiert und Fehlschläge in Kauf genommen werden, lässt sich aus den Modellen ablesen.
Die Basler Architekten verwenden verschiedene Materialien für ihre Modelle und lassen sich vom Zufall leiten. Unter dem Verb „basteln“ kann man bei Herzog & de Meuron sowohl die klassische Tätigkeit mit Schere, Kleber und Pappe22 als auch die Nutzung der Möglichkeiten, die das CAAD (Computer Aided Architectural Design)23 bietet, verstehen. Folgt man dem Weg der Formfindung nach den hier vorgestellten Schritten, müsste das Basteln auf einer Idee, welche durch die Recherche am Ort gefunden und im Dialog gefestigt wurde, aufbauen. Herzog & de Meuron nutzten in diesem Stadium des Projektes häufig den gelenkten Zufall zur letztendlichen Formfindung24. Sie greifen somit eine Methode auf, die in der Kunst eine längere Tradition hat.
In der Kunstgeschichte beschäftigte man sich seit den späten 1950er Jahren mit dem Zufallsphänomen, in dieser Zeit angeregt durch den Tachismus.25 Doch auch schon Alberti schrieb 1440 in seinem Traktat De Statua, dass die Skulptur erfunden worden sei, als die Menschen Formen in Holz und Stein wahrnahmen. Leonardo soll Malern geraten haben, Flecken auf einem Gemäuer zu betrachten, um sich inspirieren zu lassen. Auch könne der Maler selbst nachhelfen und einen farbigen Schwamm an die Wand werfen, um zufällige Abdrücke entstehen zu lassen.26 Der Zufall als Methode zieht sich weiter durch die Kunstgeschichte. In der Kunst des 20. Jahrhunderts spielte der Zufall in vielen Kunstströmungen eine zentrale Rolle, so bei den Surrealisten oder den Dadaisten. Das Basler Architektenbüro präsentiert seine Arbeitsweise mit dem Zufall bewusst, indem sie Studien zu diesen Arbeiten veröffentlichen. Sie reihen sich also in eine lange Tradition ein.
Materialität und Wirkung im Experiment
Auch der fünfte Schritt stellt einen handwerklichen Ansatz dar. Herzog & de Meuron nutzen die Möglichkeit sich von einem Material zu einem Entwurf inspirieren zu lassen, oder aber mit einem passenden Material ihre Idee eines Gebäudes zu unterstreichen.27 Die Materialfindung sollte im Idealfall aber auf der Idee des Gebäudes fußen und, genau wie das spielerische Basteln, erst nach der Recherche und dem Dialog stattfinden. Die Idee zur Verwendung eines bestimmten Materials kann auch in den ersten Phasen des Entwurfsprozesses gefunden und später im Experiment konkretisiert werden. Das Material spielt eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung der Objekte. Der Begriff Materialität fällt oft, wenn von der Architektur Herzogs & de Meurons die Rede ist.28 Dies heißt einerseits das Material und seine Qualitäten erkennen, sie herauszustreichen und mit Hilfe der Form und Nutzung zu betonen, andererseits betreiben Herzog & de Meuron aber oft das genaue Gegenteil einer Betonung der Eigenschaft des Materials. Sie lassen Beton leicht erscheinen und Glas tragend (Abb.5).29 Man kann sagen, sie entmaterialisieren ihre Werkstoffe. Sie nutzen den Charakter eines Materials, seine Materialikonographie, um ihre Ideen zu betonen oder aber auch um zu irritieren. Deswegen stellten Herzog & de Meuron bei vielen ihrer älteren Projekte die Form zurück, damit diese nicht vom Material ablenkt.30
Sie nutzen – wie in der Minimal Art – geometrische Formen, damit die Sinne sich auf das Material konzentrieren können. Die reduzierten Formen oder „Kisten“ stehen also nicht in Verbindung mit der Moderne, sie sind nicht aus praktischen und kostensparenden Gründen viereckig, sondern um die Sinne nicht von der Wirkung des Materials abzulenken. Das Einbeziehen des Materials in den Entwurfsprozess ist nicht mit der Idee der materialistischen Funktionalisten des 19. Jahrhunderts zu verwechseln, die für ein Erkennen der neuen Materialien plädierten und für diese eine passende architektonische Form suchten.31 Das Material legt bei Herzog & de Meuron nicht die Form per se fest, sondern es geht ihnen um die Hinterfragung der sinnlichen Qualitäten von Baustoffen.
Künstlerische Innovation
Nachdem die fünf Schritte der Formfindung erläutert wurden und somit die Basis geschaffen wurde, um die Leitfrage des Artikels beantworten zu können, muss die Fragestellung im Folgenden genauer definiert werden. Für die Begriffe ‚Innovation‘, insbesondere der künstlerischen Innovation, und ‚Adaption‘ müssen nun Definitionen gefunden werden. Das Wort ‚Innovation‘ stammt von dem lateinischen Wort ‚innovare‘ ab, was so viel wie ‚erneuern‘ oder ‚verändern‘ bedeutet.32 Laut Michael Langer basiert eine Innovation immer auf etwas Vorhandenem, sie kann nicht aus dem „Nichts“ entstehen. Jede Innovation ist das Resultat eines Denkprozesses, etwas kann auch per Zufall entdeckt werden, aber nur auf der Suche nach etwas Bestimmten.33 Es ist zu vermuten, dass Innovationen auf zeitlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen beruhen und die Person des Erfinders nur als Katalysator fungiert. Diese Annahme wird von der Tatsache bestätigt, dass es oft dieselbe Erfindung an verschiedenen Orten zur selben Zeit gibt. Eine Innovation kann prinzipiell verändern oder aber auch nur das Bisherige modifizieren. Langer definiert die künstlerischen Innovationen wie folgt: „Wie alle Innovationen sind auch künstlerische Neuerungen von ihrem Kontext abhängig. Sie entstehen als bewusste oder unbewusste Antworten des Künstlers auf die Wahrnehmung seines Umfeldes. Künstlerisches Talent besteht deshalb zunächst im intelligenten und intuitiven Erfassen der allgemeinen Existenzqualität in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort.“34 Laut Langer existiert die Idee der künstlerischen Innovation als Entsprechung auf Veränderungen der geistigen und materiellen Existenz erst seit dem 20. Jahrhundert.35
Jedoch ist zu beachten, dass der Gedanke, Architektur als Adaption von Natur zu sehen, bereits in der Antike existierte. Dorothea Lehner weist darauf hin, dass es während der Antike und in der Zeit vor der Aufklärung keinen Konflikt zwischen imitatio und inventio gab. Der Begriff der ‚Inventio‘ wurde nicht als Erfindung von etwas Neuem, noch nie Dagewesenem verstanden, sondern als Finden von in der Natur existierenden Möglichkeiten. So sieht Vitruv die Lehre der architektonischen Proportionen als Ergebnis von Naturbeobachtungen an. Auch wenn hier der Begriff der ‚Imitatio‘ gewählt wurde, ist nicht eine Eins-zu-Eins Kopie der Natur gemeint, sondern die Natur wird vielmehr als ein strukturelles Vorbild gesehen.36 Der Unterschied zur adaptiven Auffassung, wie sie Langer beschreibt, ist, dass es in der Antike nicht um das Adaptieren einer aktuellen sich wandelnden, sondern einer zeitlich allgemeingültigen Natur geht. Dem steht der Gedanke einer zeitlos gültigen Architektur gegenüber, die bestimmten Gestaltungsregeln folgt.
Diese Meinung vertraten die „anciens“ im Theoriestreit mit den „modernes“ gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Die konservative Gruppe der „anciens“ wollte aus der antiken Architektur einen festen Maßkatalog ableiten. Claude Perrault sprach sich hingegen als führender Kopf der „modernes“ gegen das Einhalten bestimmter Zahlenverhältnisse und für eine Ästhetik aus, die sich aus einem Zeitgeschmack ergibt und sich deshalb wandelt.37 In der Geschichte der Architekturtheorie folgten als Verfechter einer sich mit der Zeit wandelnden Architektur Namen wie Gottfried Semper38 oder Otto Wagner.39 Auch der Gedanke des organischen Bauens nach Scharoun ist laut Eckehard Janofske die bruchlose Entsprechung zwischen Bauwerk und dem geistigen Prinzip der Zeit.40 Es gab jedoch auch immer wieder Versuche allgemein gültige Regeln für den Entwurfsprozess aufzustellen, zum Beispiel die Fünf Punkte zu einer neuen Architektur von Le Corbusier und Pierre Jeanneret.41 Herzog & de Meuron gliedern sich in die Reihe der „modernes“ ein, denn sie sprechen sich gegen Regeln aus und verfolgen in ihrer Entwurfsarbeit vielmehr eine Methodik, die sich über das Aufnehmen ihres Umfeldes definiert.
Architektonische Adaption
Die Recherche über den Ort und seine Geschichte setzen Herzog und de Meuron in eine erste Idee, in einen Leitfaden für den weiteren Formfindungsprozess, um. Es stellt sich hier die Frage, ob dieses Vorgehen ein adaptiver Prozess ist. ‚Adaptieren‘ bedeutet ‚anpassen‘, was passiv und wenig innovativ klingt. Das Substantiv ‚Adaption‘ wird als die Umsetzung einer Sache in ein anderes Genre verstanden.42 So ist ein Film, der auf einem Buch beruht, dessen Adaption. Hier ist ein Prozess besser erkennbar: Der Film kann nicht dasselbe leisten wie ein Buch, er soll dieselbe Geschichte transportieren, besitzt jedoch ganz andere Möglichkeiten und Stärken als ein literarisches Werk.
Wenn man die Architektur Herzog & de Meurons als Adaption sieht, bedeutet dies, dass sie die Umformung von etwas aus einem anderen Medium ist. Als Medium werden die Umstände der Bauaufgabe gesehen, diese beinhalten den Bauort, seine Geschichte, die Bauaufgabe und das gesellschaftliche Umfeld. Adaption muss nicht bedeuten, dass das Gebäude in seiner Umgebung nicht auffällt oder gar aus der Wahrnehmung verschwindet. Dies hängt von der Bauaufgabe ab. Wenn ein Gebäude ein Wahrzeichen werden soll, ist eine seiner primären Aufgaben das Auffallen. Das Adaptieren soll vielmehr das Gebäude in seine Umgebung und Zeit einfügen und reflektieren. Zwei andere Formen eines adaptiven Denkens in der Architekturgeschichte sind der materielle und der zweckmäßige Funktionalismus. Im 19. Jahrhundert spaltete sich das Lager der Architekten in zwei Fronten: Die Verfechter der Stil- und Formgebung standen dem Lager der Funktionalisten gegenüber, welche nach neuen Formen für neue Materialien suchten. Das letztgenannte Lager war gegen ein Verbiegen der neuen Materialien, um mit ihnen vergangene Stile zu imitieren. Die Architektur solle sich mit ihren Formen an die Qualitäten der neuen Materialien anpassen.43
Im 20. Jahrhundert wurde die von Sullivan überlieferte Formel „form follows function“ von vielen Architekten interpretiert und führte zu unterschiedlichsten Architekturen. Unter anderen übernahmen Architekten wie Frank Lloyd Wright oder Scharoun die Formel als Idee des organischen Bauens. In dieser Formel steckt die Idee der Architektur als Adaption der Bauaufgabe, die Gebäudeform ergibt sich somit scheinbar automatisch aus den Funktionen der Räume. Wobei bei dieser Form der Adaption Wiederholungen schneller zustande kommen, da die Zahl der Bauaufgaben begrenzt ist. Im Gegensatz zu Scharoun zog Wright die Umgebung des Baus mit in den Entwurf ein und sprach sich für eine Individualität jeden Hauses aus. Louis Kahn formte Sullivans Formel in „form evokes function“ um und spricht der Form selbst einen gestalterischen Wert zu.44
Innovation durch Adaption
Durch die oben angeführten Definitionen von Innovation und Adaption und die Verortung in der Kunst- und Architekturgeschichte, kann nun überlegt werden, ob die erläuterten fünf Schritte der Formfindung bei Herzog & de Meuron adaptiv sind, und wenn ja, ob diese zu Innovationen führen.
Herzog & de Meuron versuchen ohne a priori an ihre Architekturprojekte heranzugehen. Sie haben verschiedene Methoden entwickelt, die teilweise aufeinander aufbauen, aber auch verschiedene Möglichkeiten bieten, um nicht in einen festgefahrenen Stil zu verfallen. Bei ihrem Schaffensprozess handelt es sich weniger um das Einhalten bestimmter Regeln, als um einen methodischen Ansatz. Dieser Ansatz setzt sich zusammen aus Anregungen verschiedener Gebiete, wie der Architekturgeschichte selbst, Arbeitsweisen der bildenden Kunst oder naturwissenschaftlichen Denkexperimenten. In ihrer Selbstpräsentation legen Herzog & de Meuron auf den Entstehungsprozess ihrer Werke ein besonderes Augenmerk, sie haben sich daraus ein Image generiert. Ihre Architektur leitet sich nicht aus einer funktionalistischen Denkweise ab – weder einer materiellen noch einer zweckmäßigen. Trotzdem wird ihre Architektur nicht durch ihren Zweck oder das zu benutzende Material determiniert. Wichtige Faktoren sind der Ort, die Umstände und die Zeit, an welche sie ihre Entwürfe adaptieren. Durch die Vielzahl der Umstände und durch zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten sind Wiederholungen selten, hingegen können ganz neue Ideen entstehen.
Desweiteren nutzen Herzog & de Meuron im Laufe des Formfindungsprozesses – auf die Grundidee des Projektes aufbauend – die Methoden des Dialogs und des Experimentierens, um ihre Gedanken auf neue Pfade zu lenken. Somit ist das adaptive Vorgehen, im Hinblick auf den Ort und die Zeit in Kombination mit dem Dialog und dem Experiment, eine Möglichkeit, um Wiederholungen aus dem Weg zu gehen und Architektur zu schaffen, die als angenehm und passend empfunden wird und in manchen Fällen zu neuen Ideen beziehungsweise zu Innovation führen kann.
- Abb. 1 | Foto, Autorin. Tate Modern, London.
- Abb. 2 | Foto, Autorin. Laban Creekside, London.
- Abb. 3 | Foto, Margherita Spiluttini. SBB Stellwerk 4, Auf dem Wolf, Basel.
- Abb. 4 | Foto, Margherita Spiluttini. Bibliothek der Fachhochschule Eberswalde.
- Abb. 5 | Foto, Autorin. Sammlung Goetz, München.
- Vgl. Franck, Georg: „Herzog und de Meuron“. In: van Lieshout, Joep (Hg.): Architekturvorträge der ETH Zürich. What moves architecture? (In the next five years). Zürich 2006, S. 54-87, hier S. 69. ↩
- Mack, Gerhard: Herzog & de Meuron. Das Gesamtwerk. 4 Bde. Basel 1997ff. Márquez Cecilia, Fernando/Levene, Richard (Hg.): Herzog & de Meuron 1993-1997/1981-2000/1998-2002/2002-2006. El Croquis 84 (1997) / 60/84 (2002) / 109/110 (2002) / 129/130 (2006). ↩
- Vgl. u.a. Herzog, Jacques: „Die Architektur der Darstellung. Einige Gedanken über Architekturmodelle und andere Darstellungstechniken des Architekten.“ In: Werk, Bauen, Wohnen, 10 (1983), S. 29-33 und Herzog, Jacques/de Meuron, Pierre: „Architektur verstehen.“ In: Schweger, Peter P./Meyer, Wilhelm (Hg.): Architektur der Gegenwart. Konzepte, Projekte, Bauten. Stuttgart 1993, S. 88-91. ↩
- Vgl. u.a. Chevrier, Jean-Francois: „Ornament, Structure, Space. A Conversation with Jacques Herzog. Basel, Winter 2006“. In: Márquez Cecilia, Fernando/Levene, Richard (Hg.): Herzog & de Meuron 2002-2006. Monumento e Intimidad. El Croquis 129/130 (2006), S. 22-40 und Kipins, Jeffrey: „Una conversación con Jacques Herzog, 5. Mai 1997“. In: Márquez Cecilia, Fernando/Levene, Richard (Hg.): Herzog & de Meuron 1981-2000. Between the Face and the Landscape and the Cunning of Cosmetics. El Croquis 60/84 (2000), S. 27-37. ↩
- Vgl. u.a. Sammlung Goetz, München, Deutschland. Skizze. Vgl. Ursprung, Philip (Hg.): Herzog & de Meuron. Naturgeschichte. Herzog & de Meuron Archaeology of the mind, Ausstellungskatalog. Canadian Centre for Architecture (CCA), 23.10. 2002-06.04.2003. Baden 2005, S. 331. SUVA Haus, Umbau und Erweiterung, Basel, Schweiz. Skizze auf einem Schmierpapier, Vgl. Vischer, Theodora: Herzog & de Meuron, Zeichnungen, Drawings. New York 1997, Abb. 8. ↩
- Vgl. von Buttlar, Adrian: „Entwurfswege in der Architektur“. In: Mattenklott, Gundel/Weltzien, Friedrich (Hg.): Entwerfen und Entwurf. Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozess. Berlin 2003, S. 127-149, hier S. 146. ↩
- Vgl. u.a. Fotografie eines Gullydeckels, der als Inspiration für die Gittervorhänge des Wohn- und Geschäftshaus Schützenmattstrasse Basel, Schweiz gedient hat. Vgl. URSPRUNG 2005, S. 290. Fotografien von Inspirationsquellen für das Olympiastadion in Peking. Vgl. Márquez Cecilia, Fernando/Levene, Richard (Hg.): Herzog & de Meuron 2002-2006. Monumento e Intimidad. El Croquis 129/130 (2006), S. 444f. ↩
- Vgl. u.a. in der Ausstellung No.250 An Exhibition im Schaulager. Herzog & de Meuron stellten Modelle und Fotografien, die sie im Entwurfsprozess zum Gebäude des Schaulagers gesammelt hatten, als Sourcebook aus. Vgl. Vischer, Theodora: Herzog & de Meuron. Herzog & de Meuron. No. 250. An Exhibition, Ausstellungskatalog. Basel 2004. ↩
- Vgl. Vischer, Theodora: „Gespräch mit Jacques Herzog“. In: Jehle-Schulte Strathaus, Ulrike (Hg.): Herzog & de Meuron. Architektur Denkform, Ausstellungskatalog. Basel 1988, S. 40-50, hier S. 40. ↩
- Herzog, Jacques: „Die Verborgene Geometrie der Natur. Vortrag 1988“. In: MACK 1997, S. 207-211, hier S. 210. ↩
- MÁRQUEZ CECILIA/LEVENE 2000, S. 365. ↩
- Vgl. Márquez Cecilia, Fernando/Levene, Richard (Hg.): Herzog & de Meuron 1998-2002. The Nature of Artifice. El Croquis 109/110 (2002), S. 18, 253. ↩
- Vgl. Adam, Hubertus/Heuser, Mechthild/Bürkle, J. Chrisoph: „Im Gespräch mit Jacques Herzog: Kunst-Architektur-Natur“. In: archithese 5 (1998), S.4-13, hier S. 10. ↩
- Vgl. MACK 1997, S. 75f. ↩
- Vgl. Weiwei, Ai/Herzog, Jacques/de Meuron, Pierre: Beijing, Venice, London. London 2008. ↩
- Hürzeler, Catherine: „Herzog und de Meuron: Zusammenarbeit mit Künstlern. Catherine Hürzeler im Gespräch mit Jacques Herzog“. In: Wang, Wilfried: Herzog & de Meuron. Basel 1998, S. 189-196, hier S. 192. ↩
- Vgl. u.a. Vergne, Philippe: „Gespräch mit Jaques Herzog“. In: Blauvelt, Andrew (Hg.): Expanding The Center. Walker Art Center and Herzog & de Meuron. Minneapolis 2005, S. 8-11. Zaugg, Rémy: „Interview von Rémy Zaugg mit Herzog und de Meuron“. In: Zaugg, Rémy (Hg.): Herzog & de Meuron. Eine Ausstellung, Ausstellungskatalog, Centre Georges Pompidou, 08.03.-22.05.1995. Ostfildern-Ruit 1996, S. 21-27. ↩
- „Dennoch ist die Frage nach Firmitas eine interessante Themenstellung für Architektur von heute. Sie fordert uns heraus, darüber nachzudenken, welche Architektur wir machen können. Letztlich lautet die Frage immer: Was ist Architektur?“ Zitiert nach Herzog, Jacques/de Meuron, Pierre: „Firmitas“. In: Mack, Gerhard: Herzog & de Meuron. 1992-1996. Das Gesamtwerk. Basel 2005, S. 250-253. ↩
- Kuhnert, Nikolaus/Schnell, Angelika: „Herzog und de Meuron im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert und Angelika Schnell“. In: Herzog & de Meuron. Minimalismus und Ornament. Archplus 129/130 (1995), S. 18-24, hier S.18. ↩
- Vgl. Moneo, Rafael: Theoretical Anxiety and Design Strategies. In the Work of eight contemporary Architects. Barcelona 2004, S. 372. ↩
- Herzog & de Meuron. No. 250. Eine Ausstellung: Münchenstein, Schaulager Basel: 08.05.04 - 12.09.04, London, Tate Modern: 01.06.05 - 29.08.05, München, Haus der Kunst: 05.06 - 30.07.06. ↩
- Vgl. u.a. MÀRQUEZ CECILIA/LEVENE 2002, S. 265. ↩
- Vgl. ebd., S. 329. ↩
- Vgl. ebd., S. 280-281. ↩
- Die Informationen im folgenden Abschnitt über den Zufall in der Kunst stammen aus der Publikation von Rosenberg, Raphael: „Zufall und Abstraktion“. In: Rosenberg, Raphael/Hollein, Max (Hg.): Turner, Hugo, Moreau. Entdeckung der Abstraktion, Ausstellungskatalog, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 6.10.2007-06.01.2008. München 2007, S. 54-111. ↩
- Vgl. da Vinci, Leonardo: Il Trattato della pittura. Bologna 1786. Deutsche Ausgabe: Traktat von der Malerei. Jena 1909. ↩
- Vgl. u.a. Steinhaus in Tavole, Italien. MACK 1997, S.64; Oder Speerholzhaus in Bottmingen, Schweiz. MONEO 2004, S. 372. ↩
- Vgl. u.a. Bignens, Christoph: „Sperrholz als Gestalter“. In: Daidalos 6 (1995), S. 74-79, hier S. 76; Tschanz, Martin: „Sanfte Pervertierungen“. In: Daidalos 6 (1995), S. 88-95. ↩
- Vgl. u.a. Sammlung Goetz München, Deutschland. MONEO 2004, S. 389. ↩
- Vgl. u.a. Bibliothek für Fachhochschule in Eberswalde, Deutschland. MACK 1997, S. 78-79; ISP-Institut für Spitalpharmazie, Rossettiareal Basel, Schweiz. The Hyatt Foundation: The Pritzker Architecture Prize 2001. Presented to Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Los Angeles 2001, o.S. ↩
- Vgl. Weston, Richard: Material, Form und Architektur. Stuttgart 2003, S. 60. ↩
- Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, s.v. Innovation. Bd. 13. Mannheim 212006, S. 323. ↩
- Vgl. Langer, Michael: Innovation und Kunstqualität. Die Kategorien des neuen in der Kunst. Worms 1989. ↩
- Ebd., S. 54. ↩
- Vgl. ebd., S. 140. ↩
- Vgl. Lehner, Dorothea: Architektur und Natur. München 1987, S. 10. ↩
- Vgl. Laudel, Heidrun: Gottfried Semper. Architektur und Stil. Dresden 1991, S. 52. ↩
- Vgl. ebd., S. 53. ↩
- Vgl. Wagner, Otto: Die Baukunst unserer Zeit. Nachdruck der IV. Aufl. Wien 1914. Wien 1979, S. 31. ↩
- Vgl. Janofske, Eckehard: Architektur-Räume. Idee und Gestalt bei Hans Scharoun. Braunschweig/Wiesbaden 1984, S. 146. ↩
- Vgl. Le Corbusier/Jeanneret, Pierre: Zwei Wohnhäuser. Fünf Punkte zu einer neuen Architektur. Suttgart 1927, S. 6f. ↩
- Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, s.v. Adaption. Bd. 1. Mannheim 212006, S. 178. ↩
- Vgl. WESTON 2003, S. 60. ↩
- Vgl. Kahn, Louis, zit. nach Joedicke, Jürgen: Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart/Zürich 1998, S. 121. ↩