Was das TIME Magazine kann, das können wir auch, dachten wir uns. Bei jeder Gelegenheit nahmen wir also unser Smartphone in die Hand, kuschelten uns in eine warme Decke, legten unsere Füße hoch und klickten uns Tage und Nächte, Wochen und Monate durch die digitalen Galerien des sozialen Fotonetzwerks, um unseren Instagram Fotografen des Jahres ausfindig zu machen.
Instagram kann mehr sein als die Spielereien der Community, an denen wir uns natürlich selbst bisweilen gern beteiligen. #gostandthere vor dieser Wand, #gostandthere an dieser Ecke, #friendsandwalls, #architectureandpeople oder #minimalpeople in der TU in Berlin, auf dem Dach des Tempodroms, in der Hamburger Kunsthalle und vor den Gehry Bauten in Düsseldorf. Die Liste der Instagram-Hotspots ließe sich noch eine Weile fortsetzen. Treppenhäuser, Parkhäuser, U-Bahnhöfe und Containerhäfen werden zu Spielplätzen. Oder zu Stehplätzen für die #standcommunity. Man fotografiert sich gegenseitig, wie man so dasteht, lässig, gekonnt, rumstehen eben. Man fragt die eigenen Follower #kenntihrschon, #hihaveyoumet und erzählt #todayimet und #whoifollow. Manchmal schaut oder winkt man auch in eine Pfütze: #sayhitothewater.
Phänomene wie die Socality Barbie oder die Instagram Husbands haben sich in den letzten Monaten rasant viral verbreitet, weil die Ernsthaftigkeit, mit der das eigene Leben auf Instagram inszeniert wird, doch irgendwann gewaltig nervt oder einfach langweilt. Milchschaum mit Herzen – mit Penis geht auch, nur ist diese Latteart nicht ganz so erfolgreich –, Füße am Strand oder in der Badewanne, die Arme gen Baumkronen gereckt.
Teenies sitzen offenbar den ganzen Tag vor Instagram, um minütlich die Zahl der Likes auf ihr neuestes Selfie zu checken. This American Life hatte in der Sendung zum Thema Status Updates drei Teenager zu Gast, die von ihrem Leben mit Instagram berichten, ohne es auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Sie zählen mit, 2 Likes in einer Minute, 3 Likes, 6 Likes in einer Minute, das sei nicht schlecht. Und die Kommentare: gorgeous, pretty, stunning, model. Was immer geht: „You can add OMG after anything.“ Sie geben unumwunden zu, dass sie sich um ihre Relevanz sorgen, dass sie selbst eine Marke seien und sich deshalb ständig selbst promoten müssten.
Für den Instagram-Gründer Kevin Systrom sind Teenager die wichtigste Quelle, wenn es um den Kanal, Trends und die Funktion geht. Teenager, denen die Ausweitung der Privatsphäre zu weit geht, ziehen sich zurück und teilen ihr ungeschöntes Leben nur noch mit ein paar Freunden via finsta, ihrem „fake“ Instagram Account. Systrom dazu im Interview Magazin (9/2015):
And on the finsta account they’re not chained down in any way to any look or theme; they literally overshare every day each and every thing that’s happening in their lives. The volume at which they post is much higher, and they worry less about aesthetics. Whereas their real Instagram account is the best presentation of themselves.
Klingt nach einer Beschreibung von Snapchat. Aber das möchte Systrom sicherlich nicht hören, schließlich war Instagram dieses Jahr viel daran gelegen, den Anschluss an Bewegtbildformate nicht zu verlieren.
Der Pop-Philosoph Byung-Chul Han hat sich jüngst unter dem Titel Errettung des Schönen an einer Beschreibung der Ästhetik des digitalen Zeitalters versucht. Das Feuilleton zeigte sich gewohnt angeödet vom Philosophen, der gern leicht Lesbares zu aktuellen Debatten beiträgt. Darum muss er sich anhören, dass sich in seinen schmalen Bändchen häufig Sätze finden, die sich gut twittern oder in Museumskatalogen zitieren lassen, wenn einem mal nach etwas Philosophie für Dummies oder so ähnlich ist. Es sei nun auch hier eine dieser Passagen zitiert, die gut klingt:
Das Glatte ist die Signatur der Gegenwart. Es verbindet Skulpturen von Jeff Koons, iPhone und Brazilian Waxing miteinander. Warum finden wir heute das Glatte schön? Über die ästhetische Wirkung hinaus spiegelt es einen allgemeinen gesellschaftlichen Imperativ wider. Es verkörpert nämlich die Positivgesellschaft. Das Glatte verletzt nicht. Von ihm geht auch kein Widerstand aus. Es heischt Like. Der glatte Gegenstand tilgt sein Gegen. Jede Negativität wird beseitigt.
Weiter sind Sätze zu lesen wie „Das Schöne erschöpft sich im Gefällt-mir.“ Oder: „Wo das Gefallen, Like, sich vordrängt, erlahmt die Erfahrung, die ohne Negativität nicht möglich ist.“ Jeff Koons muss als Beispiel für eine gefällige Kunst herhalten, der ein „Wow“ als Reaktion genüge, die nicht auf Urteile, Interpretationen und Reflexionen aus sei, sondern bewusst infantil, banal, unbeirrbar, entspannend, entwaffnend und entlastend sei. Tiefe, Untiefe, Tiefsinn? Nicht bei Jeff Koons und seinen Ballon Dogs. Sein Motto laute, den Betrachter umarmen, nur nicht erschüttern, verletzten oder erschrecken, seine Kunst begnüge sich mit Schönheit, Freude und Kommunikation. Liest sich wie eine Beschreibung von dem, was auf Instagram den ganzen Tag los ist.
Deshalb fiel unsere Wahl auf eine Instagram Fotografin – wenn das überhaupt ein passender Begriff ist –, die mit viel Humor, Ironie und Herz fotografiert und erzählt. Gelebte Momente und nicht inszeniertes Leben. Nicole Marcellini ist meist im Ruhrgebiet unterwegs und widmet sich dort ganz klassisch der Street Photography. Bei ihr wird es auch mal unbequem und unschön. Während Fotografen wie Martin Parr als zynische und sarkastische Beobachter gelten, federt @marcellini entblößende Momente und einen zu genauen Blick mit ihren Bildunterschriften ab. „Love is the answer“ steht als Beschreibung in ihrem Profil, mehr erfährt man dort über sie nicht. Blättert man sich durch ihr digitales Fotobuch auf Instagram und liest ihre Texte zu den Bildern, nickt man irgendwann gefühlsduselig zustimmend und murmelt: „Love is the answer.“
Peg Ale greeting her pale pal. A photo posted by Nicole Marcellini (@marcellini) on
„It’s just a question of time, Mario …“ A photo posted by Nicole Marcellini (@marcellini) on
How to hit on the hostess. A photo posted by Nicole Marcellini (@marcellini) on
Und drei Bilder aus dem letzten Jahr, die uns im Gedächtnis geblieben sind:
There’s nothing bad about posing. It’s a sign of vital life. Until you feel the spontaneous urge to show yourself at your best, you’re not lost. Whatever may have happend in your life, whatever others say, whatever your vanishing mind may tell you: This is you. A photo posted by Nicole Marcellini (@marcellini) on
A photo posted by Nicole Marcellini (@marcellini) on
Das TIME Magazine entschied sich übrigens für Stacy Kranitz mit der Begründung: „She uses Instagram as ‚it was intended to be used,‘ as Matt Black put it: ‚To witness things as they happen.“