Herr Holten, seit einigen Wochen sind Sie Direktor der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, herzlichen Glückwunsch. Die letzten Vorbereitungen für Ihre erste Ausstellung „Geschmack“ laufen. Warum möchten Sie über Geschmack streiten?
Ich leite eine Staatliche Kunsthalle, weshalb ich gewissermaßen einen öffentlichen Auftrag habe. Ich bin nicht hier, um meinen Geschmack zu präsentieren − mag ich gerade lieber Blau oder Rot, Fotografie oder Skulptur? Es muss also um mehr gehen. Mir geht es darum zu zeigen, dass es guten und schlechten Geschmack gar nicht mehr richtig gibt. Künstler haben mindestens 30 oder 40 Jahre lang daran gearbeitet, dies zu durchbrechen. Geschmack wird heute davon geleitet, dass Gucci einen neuen Kaufreiz im Laden auslöst oder wir dazu verleitet werden, das iPhone als das neueste Gadget unbedingt haben zu müssen. Deswegen sehe ich das Ausstellungsprojekt als einen Auftrag, nicht als eine eigentliche Antwort. Geschmack ist nicht mehr tragfähig als Grundlage für ein Ausstellungsprogramm, das zeigt dieser Auftrag.
Sie beziehen sich also mit Ihrer Ausstellung auf einen Gesellschaftsdiskurs und setzen damit Ihren öffentlichen Auftrag um?
Sicherlich werden einige Besucher mit einer anderen Erwartungshaltung kommen und schauen wollen, was ich für einen Geschmack habe, ob ich einen guten Geschmack habe. Schön wäre, wenn die Ausstellung eine Irritation in ihnen auslöst und zur Reflexion darüber anregt, dass Geschmack keine Kategorie mehr ist. Das oft zitierte Sprichwort, über guten Geschmack lässt sich nicht streiten, suggeriert ja, dass es den guten Geschmack als eine persönliche Wahrheit gibt. Das ist problematisch zu behaupten. Denn dadurch wird nicht erkannt, dass eine Geschmacksteuerung durch kommerzielle Interessen stattfindet. Ich versuche das Sprichwort zu brechen. Mit dem Sprichwort zu sagen, über Geschmack lässt sich nicht streiten, ist naiv, denn Geschmack ist heute ein Inszenierungsmodus geworden. Und darüber lässt sich streiten.
Plakataktionen auf der Lichtentaler Allee
Die Kunsthalle Baden-Baden soll sich mit Ihren Ausstellungen auch in öffentliche Debatten einmischen, das ist Ihr Ziel. Wie darf man sich das vorstellen?
Meine These ist, dass Kunst längerfristig zur Gesellschaftsdebatte beiträgt. Das ist eine große These. Wie macht man das? Wenn man so etwas sagt, denken einige Leute, dass man im Anschluss an eine Ausstellung sofort den Effekt auf der Straße spüren muss. Das ist zu kurz gegriffen. Es wäre schön, wenn man eine Ausstellung macht, die Besucher darüber nachdenken und am nächsten Tag ihr Verhalten beim Shopping in der Hauptstraße ändern. Das wird nicht passieren. Historisch gesehen gibt es Kunst und Ausstellungen, die zu einem neuen Denken in der Gesellschaft beigetragen haben. Und deshalb hat Kunst historisch gesehen Auswirkungen auf zivilgesellschaftliche Strukturen. Wenn das einmal so war, warum soll das nicht wieder so sein? Einige mögen zwar behaupten, Kunst im 21. Jahrhundert habe diese Funktion verloren, ich meine das nicht. Nicht jede Ausstellung, die ich mache, muss zu Plakataktionen auf der Lichtentaler Allee führen. Denn das ginge nur mit Themenausstellungen etwa für oder gegen den neuen Bahnhof. Einige glauben, genau das sei die einzige Form gesellschaftlich relevanter Kunst. Sie glauben, Kunst müsse sofort wirken.
Ich bin auf der Suche nach einer längerfristigen Funktion von Kunst. Man muss wissen, zu welchem Thema in der Gesellschaft man mit einer Ausstellung beitragen möchte. Das für jede Ausstellung zu formulieren, wäre ein Gegenentwurf zum Geschmack als leitendem Prinzip.
Sie diskutieren das Thema „Geschmack“ anhand einiger ausgewählter Positionen. Die Wahl ist Ihnen sicher alles andere als leicht gefallen, man hätte beispielsweise mit Damien Hirsts Schädel anfangen und mit den Köpfen von Jake und Dinos Chapman enden können. Nach welchen Kriterien haben Sie ausgewählt?
Das ist zuallererst eine Frage der kuratorischen Mittel. Jeff Koons hätte man auch ausstellen können. Und natürlich wäre es möglich, Damien Hirsts Schädel nach Baden-Baden zu bringen, würde ich drei Jahre Zeit und sehr viel Geld investieren. Es sind mir also praktische Grenzen gesetzt, zu denen auch die Räumlichkeiten gehören. Ich habe 700 Quadratmeter und kann kein Programm anlegen, das nur auf 3000 Quadratmetern funktionieren würde.
Ich arbeite beispielsweise in einem Raum den historischen Teil der Ausstellung mit elf Leihgaben zur Malerei um 1800 ab, das ist schon frech. Die Arbeiten müssen hier eine Zitatfunktion übernehmen und dienen als Referenz. Die Ausstellung ergibt sich also aus verfügbaren Leihgaben, Transportbudget und Arbeiten, die zusammen mit anderen Arbeiten funktionieren. Hirst und Jeff Koons würden in die Ausstellung passen, allerdings deckt nun Anselm Reyle das Thema ab. Gerade in seinen letzten Arbeiten inszeniert er den schlechten Geschmack sehr teuer und sehr aufwendig.
Überwiegt auf Rezipientenseite in der zeitgenössischen Kunst der gute, der schlechte oder der teure Geschmack? Was bedienen die Künstler?
Es gibt Unterschiede, aber die meisten bedienen heute eine Kritik am teuren und eine Auflösung von gutem und schlechtem Geschmack. Was in den gegenwärtigen Positionen fast alle vereint, ist ein Aufzeigen oder Spielen mit dieser Auflösung und dem Ersetzen durch teuren Geschmack. Das ist auch meine Behauptung in dieser Ausstellung: Der teure Geschmack ist übrig, der gute und der schlechte haben sich vermischt. Ausnahmen sind vielleicht Katharina Grosse und auch Zhou Tiehai. Bei ihnen geht es weniger nur um den teuren, sondern auch um ein abstraktes Bild dafür, was passiert, wenn wir keine Kategorien und keinen Referenzrahmen mehr für Visualität haben.
Weg von der „perfekten Ausstellung“
Sie spüren also mit ihrer Ausstellung dem Zeitgeist, um nicht Geschmack sagen zu müssen, der Künstler nach?
Das ist natürlich meine Hoffnung. Man hechelt als Kurator ja immer mindestens zwei bis fünf Zentimeter hinterher, nur hoffentlich nicht gar einen Meter. Und ich kann natürlich nur das machen, was die Künstler machen. Die Vorwürfe, dass Kuratoren immer entscheiden, was gerade aktuell ist, treffen nicht zu. Wir können keine Kunstwerke produzieren. Wir können vielleicht gewisse Künstler anderen gegenüber präferieren. Je dichter man an dem dran ist, was die Künstler interessiert, desto besser. Das Thema der Ausstellung ist sehr präsent, deshalb versuchen wir hier einige Positionen zu vereinen.
Zurück zu Ihrem neuen Aufgabenbereich. Stehen Sie als Direktor einer Kunsthalle jetzt in Konkurrenz zu Ihrem vorherigen Wirkungsort, den Kunstvereinen, immerhin geht es beiden um die Stärkung der Gegenwartskunst?
Die Grenzen zwischen Kunstverein und Kunsthalle sind fließend. Es gibt Kunstvereine größeren Formats und es gibt Kunstvereine, die sich Kunsthalle nennen. Allgemein sind Kunstvereine aber mit weniger Mitteln ausgestattet und bedienen eine kleinere Öffentlichkeit. Sie dienen vor allem als Plattform für jüngere Künstler. In einer Kunsthalle muss man größer denken, was einerseits die Möglichkeiten als Kurator reduziert, andererseits braucht man aber auch mehr Erfahrung. Es gibt zwar eine gewisse Rangordnung, aber das sollte man nicht unbedingt am Namen festmachen.
Wie wird sich Ihre Arbeit hier von der in Heidelberg unterscheiden?
Vorher hatte ich nicht so eine schöne Allee vor der Tür, in Heidelberg gab es nur einen Hof! Das ist natürlich nicht der einzige Unterschied. Die Entwicklung vom Kunstverein Heidelberg hierher ist für mich eine natürliche Entwicklung. Vieles von dem, was ich dort gelernt habe, kann ich hier umsetzen, nur eben in einem größeren Format. Es ist interessant zu testen, wie die gleichen Methoden in einer breiteren Öffentlichkeit funktionieren. Meinem Gefühl nach hat sich nicht viel verändert, ich bin immer noch in einer kleinen, sehr hübschen Stadt im Südwesten Deutschlands.
In Heidelberg haben Sie sich der Frage nach der „perfekten Ausstellung“ gewidmet und damit die objektive Bewertung von Kunst nach dem System von „Artfacts“ hinterfragt. Jetzt bespiegeln Sie die subjektive Bewertung von Kunst. Es interessieren Sie also weiterhin Bewertungsmaßstäbe von Kunst?
Ich sollte für meine nächste Ausstellung einen langweiligen Titel wählen. Der Titel „Die perfekte Ausstellung“ funktioniert gut und löst auch bei Personen, die die Ausstellung nicht gesehen haben, einen Reiz aus. Reizvolle Titel sind gut, da sie Besucher anziehen, werden aber problematisch, wenn sie die Aussage der Ausstellung überdecken.
Ich finde es interessant, Ausstellungsformate zu erstellen, die mitunter Reflexionen über vorhandene Bewertungsmaßstäbe anregen. Die immer noch unter vielen Kollegen verbreitete Haltung, subjektiv darüber entscheiden zu können, was gezeigt wird und demnach gut sein muss, ohne über das Warum Rechenschaft ablegen zu müssen, ist vielleicht nicht mehr zeitgemäß. Daher rührt mein Interesse, gerade diese Reflexionen in Ausstellungen einzubringen.
Ein Doktortitel allein reicht nicht
Wenn Sie mir einige Fragen zu Ihrem Werdegang erlauben. Sie sind nicht promoviert, waren Direktor eines Kunstvereins und sind jetzt Direktor einer Kunsthalle. Es geht also auch ohne Promotion?
Ja, das geht. Das heißt aber nicht, dass es auf jeden Fall geht und das heißt auch nicht, dass eine Promotion nicht wichtig ist. Ich habe auf Magister studiert und mein Studium abgeschlossen. Als ich mich in Heidelberg auf die Stelle beworben hatte, hatte ich meine Noten noch nicht. Deswegen kann ich sagen, dass ich nicht wegen meiner Noten angestellt wurde, sondern wegen der Projekte, die ich in Berlin realisiert habe. Ich habe nie ein Praktikum während des Studiums gemacht, sondern habe gleich eigene Projekte mit Praktikanten umgesetzt.
Das Studium ist wichtig, aber man darf nicht davon ausgehen, dass das Studium alleine Garant für eine Stelle ist. Erst die Kombination von Studium und praktischen Erfahrungen bringt einen weiter. Ein Doktortitel allein ist nicht ausreichend. Einer meiner Mitarbeiter, ein Volontär, hat beispielsweise nur einen Bachelorabschluss. Auch die Rede, dass man mit einem Bachelor nichts erreichen kann, ist nicht zutreffend. Es sind nicht die formalen Faktoren, die entscheidend sind.
Was sind Ihre Tipps?
Kunst, Kunst, Kunst anschauen. Ausstellungen, Ausstellungen, Ausstellungen besuchen und dann noch einmal drei Ausstellungen mehr besuchen. So habe ich es selbst gemacht. Mit dem Besuch der Seminare an der Universität ist es nicht getan, das ist nur der Ausgangspunkt. Kein noch so gutes Studium wird einem die Hälfte der Werke vor Augen führen, die man kennen muss. Fahren Sie zu Messen und zu Biennalen, investieren Sie die Zeit und das Geld. Und wenn die Füße müde werden, hören Sie nicht auf.
Die Ausstellung „Geschmack - der gute, der schlechte und der wirklich teure“ ist von 9. Juli bis 9. Oktober 2011 in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden zu sehen.
„Kunst, Kunst, Kunst anschauen. Ausstellungen, Ausstellungen, Ausstellungen besuchen und dann noch einmal drei Ausstellungen mehr besuchen.“
Zwei Sätze, eine Wahrheit, ja man sollte sich auf die Suche nach Kunst begeben. Immer, immer und immer wieder.
NUR, warum sollte man sich auf das reduzieren, was andere bereits aufgetan haben. Das bleibt slbstbeweihräucherndes Recyclen von schon Entdecktem. Da findet sich nicht das was Morgen wirklich zählt.
Der teure Geschmack ist immer der schlechtere.
Allerbeste
Ullrich Läntzsch