29.10.2010 – 10.04 Uhr
Um eine Gesprächsgrundlage zu schaffen, bitten wir Sie zunächst Ihr Buchprojekt kurz zu beschreiben. Worum geht es in Ihrem Buch?
31.10.2010 – 17.32 Uhr
Daniel Hornuff: Die Kultur der sozialen Netzwerke ist ohne eine genaue Analyse ihrer Bildwelten nicht zu verstehen. Web 2.0 ist bis heute das Label einer neuen Interneteuphorie. Mit der Formel „Kommunikation statt Information“ bejubeln viele seine Verknüpfungsleistung. Das entscheidende Merkmal der sozialen Netzwerke ist jedoch nicht die Interaktion, sondern die Identifikation. Plattformen wie YouTube, flickr oder facebook arbeiten bildzentriert. Sie eröffnen ihren Nutzern die Möglichkeit, über visuelle Produkte Identitätspostulate zu publizieren. Kulturkritiker reagieren darauf ähnlich reflexartig wie die Jubler, argumentieren jedoch entgegengesetzt und verweisen auf die Entfremdung von echter Identität – ein zutiefst frühromantischer Gedanke! Die Bilder der sozialen Netzwerke zeigen uns aber in aller Deutlichkeit, dass Identität keine feste Größe ist, sondern sich nur im Entwurf realisieren kann.
Simon Bieling: So wichtig Analysen sind, die dies näher beschreiben, so wenig ist dazu eine Eingemeindung dieser neueren visuellen Phänomene in die Kunstgeschichte notwendig. Man könnte sich zwar bei flickr oder YouTube ähnlich verhalten wie bei der kundigen Besichtigung einer Barockkirche. Wahrscheinlich würde man dann aber übersehen, wie stark auf diesen Onlineplattformen ein Plural der Bilder und damit deren Bezüge untereinander die entscheidende Relevanz besitzen. Denn Benutzer beziehen sich jeweils gezielt auf bereits vorliegende Bilder, um eine Differenz und damit ihre eigene Position kennzeichnen zu können.
01.11.2010 – 12.51 Uhr
Wenn mit ‚klassischen‘ kunsthistorischen Methoden die Mehrheit der Bilder und Bildbezüge nicht zu fassen ist, wie gehen Sie also bei Ihrer Analyse der Bilder sozialer Netzwerke vor?
02.11.2010 – 10.39 Uhr
Bieling: Es besteht natürlich kein Zweifel, dass die Kunstgeschichte eine ganze Reihe sehr leistungsfähiger Methoden anzubieten hat. Die aus ihnen abgeleiteten Analyseformen zeitigen deshalb aber nicht uneingeschränkt für jeden Forschungsgegenstand fruchtbare Ergebnisse. Bei der flickr-Benutzergruppe „what’s in your bag?“ zeigen wir zum Beispiel, welche visuellen Konstanten durch die Benutzer in kollektiver Bildarbeit über mehrere Jahre hinweg etabliert worden sind und wie sich einzelne Benutzer wiederum zu diesen Konstanten reaktiv verhalten. Dabei können nur eigenständig entwickelte Begriffsinstrumentarien helfen.
03.11.2010 – 14.25 Uhr
In der Gruppe „what’s in your bag?“ zeigen die flickr-User, was sie in ihrer Tasche mit sich herumtragen und porträtieren so sich selbst oder mit Ihren Worten: Sie publizieren Identitätspostulate. Können Sie die visuellen Konstanten und Reaktionen, von denen Sie hinsichtlich der Fotos in der flickr-Gruppe sprechen, beschreiben und kurz Ihr Begriffsinstrumentarium erläutern?
04.11.2010 – 14.52 Uhr
Hornuff: Der geöffnete Rucksack ist das hochgezogene Visier, und wer den Inhalt seines Rucksacks zeigt, gibt sich selbst zu erkennen. Sie haben vollkommen Recht, man muss darin einen emphatischen Porträtbegriff sehen, eine Physiognomie der Alltagsdinge. Klar ist aber auch, dass solche verallgemeinernden Deutungen eine starke Nivellierungsgefahr bergen. Methodisch steuern wir dem entgegen, indem wir streng induktiv vorgehen: Aus repräsentativen Beispielen werden gemeinsame Merkmale extrahiert. Diese Merkmale nennen wir Struktur-Modi. Ein Struktur-Modus zeichnet sich dadurch aus, dass er sich als Stil- und Ideenkonstante in unterschiedlichen Bildinszenierungen realisiert. So konstituieren sich auf den Plattformen Gruppengefüge. Das Postulat einer individuellen Identität schreibt sich in kollektive Identitätsentwürfe ein - und bedeutet das nicht die Produktion von Kultur?
Bieling: Davon kann man sicherlich ausgehen. Werden Rucksäcke zu Bildzwecken entleert, werden besondere Deutungs- und Inszenierungskompetenzen entfaltet. Gerade die streng flache, fast archivarische Darstellung der Gegenstände von oben - ihr streng konventioneller Struktur-Modus - macht es möglich Handy, Tasche, Buch oder Schlüsselbund und sogar deren Anordnung als lesbare Chiffren zu präsentieren. Ob dabei das Visier hochgezogen wird, um zur Wesensschau einzuladen, oder doch eher eine gezielt gestaltete Porträtmaske zum Besten gegeben wird, bleibt für jede Aufnahme jedoch ungewiss. Womöglich liegt aber gerade in dieser Doppeldeutigkeit auch ein Grund für die Attraktivität dieser Bildform.
08.11.2010 – 13.03 Uhr
Man könnte statt von Struktur-Modi doch auch traditionell kunsthistorisch von einer Ikonographie sprechen, die sich in dieser flickr-Gruppe etabliert hat? Oder wird ‚Ikonographie‘ der Geschwindigkeit, mit der sich diese Bildform entwickelt hat, nicht gerecht?
9.11.2010 – 11.52 Uhr
Hornuff: Mittlerweile wird der Begriff der Ikonographie inflationär gebraucht - alles und jeder besitzt heute mindestens eine Ikonographie, und wem vor einem Bild nichts einfällt, kann immerhin noch dessen ikonographische Qualität loben. Meist bleibt also unscharf, ob damit bildimmanente Eigenschaften oder aber Deutungsverfahren gemeint sind. Die Kunstgeschichte plädiert daher für eine enge Begriffsauslegung, etwa indem sie die Ikonographie als Vorstufe zur ikonologischen Interpretation ausführt. Panofsky systematisierte bekanntlich diese Methode als prozessualen Schritt von der Beschreibung zum Denken. Im Gegensatz dazu ist der Struktur-Modus keine Methode, sondern das Ergebnis einer Analyse
Bieling: Aber auch wenn man davon absieht, dass eine ikonographische Analyse nur als Zwischenschritt gelten kann, kommt man mit ihr hier nicht weit. Präzise gefasst ist sie nämlich eine Art erkennungsdienstliche Behandlung von ästhetischen Erzeugnissen. Man hofft, Bedeutungsgehalte zweifelsfrei zu identifizieren und so etwa Gemälde semantisch dingfest machen zu können. In vielen Fällen mag es einsichtsreich sein, sich als ein solcher Deutungsdetektiv zu gerieren. Doch wird, wer auf diese Weise Fotografien der flickr-Gruppen analysiert, davon überrascht werden, dass Struktur-Modi hier zwar formal konstituiert werden, diese aber gerade nicht unmittelbar mit einem eng umrissenen Bedeutungsgehalt verbunden sind.
10.11.2010 – 13.23 Uhr
Wir haben bisher nur über das soziale Netzwerk flickr gesprochen, in dem die User hauptsächlich mit Bildern operieren. Bei anderen sozialen Netzwerken wie facebook oder studiVZ scheinen die Bilder zunächst weniger wichtig zu sein. Wie präsentieren sich die Nutzer auf diesen Plattformen in Bildern und kommt es auch hier zu „kollektiver Bildarbeit“, von der Sie im Zusammenhang mit der flickr-Gruppe sprachen?
10.11.2010 – 23.02 Uhr
Bieling: Ja, aber auf etwas andere Weise. Sie möchten hier sicherlich auf die Profil-Porträts hinaus, mit denen sich die Nutzer einander gegenseitig vorstellen. Man kann sagen, dass sie als Navigationshilfen fungieren. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, sich im Zusammenhang der vielen Profilseiten, zu denen eine Verknüpfung hergestellt wurde, mühelos zu bewegen. Den Namen der befreundeten User wird ein visueller Index beigefügt, der den Zusammenhang des unterhaltenen Netzwerks von Freunden erst wirklich übersichtlich macht. Entscheidend ist dann aber, dass genau dies dazu veranlasst, sich im Kontext der anderen Profilfotografien gezielt zu platzieren. Und insofern gibt es auch hier eine kollektive Arbeit am Bild. Das individuelle Bild, das zum jeweiligen Profil hinführen soll, kann nämlich nur dann zur Inszenierung genutzt werden, wenn zugleich die anderen Profilfotografien bedacht werden.
Hornuff: Und werden die Anforderungen des Kontextes verletzt, verlagern sich die Bedeutungen. Ein gutes Beispiel liefert in dieser Hinsicht Angela Merkel, die seit dem letzten Bundestags-Wahlkampf ebenfalls ein studiVZ-Profil besitzt. Als Hobbys werden zwar Gartenarbeit, Kochen und Wandern angegeben, allerdings vermögen die ausgestellten Porträts nicht, den Bezug zur Privatkultur überzeugend zu festigen. Im Gegenteil, ihre gesamte Netzwerk-Strategie setzt auf eine scharfe Bilddifferenz zu den Struktur-Modi, wie sie auf den Plattformen ausgehandelt wurden. Insbesondere konservative Politiker neigen dazu, als ästhetische Parallelgesellschaft aufzutreten. Ihren Eintritt in das soziale Netzwerk verschmelzen sie mit ihrem Austritt aus dessen Anforderungen. So unterstreichen sie ihr Pochen auf stabile Welt- und Wertebilder, ihre Distanz zu Zeitgeistmoden. Wer sich zudem die Bundeskanzlerin ins Gemüsebeet oder hinter den Herd imaginiert, stellt über den Umweg einer inneren Verlebendigung eine Nähe zu ihr her. Als bekennende Protestantin muss sie das natürlich sehr freuen!
11.11.2010 – 17.55 Uhr
Sie haben eingangs auch YouTube erwähnt. Werden Sie in Ihrem Buch also auch auf bewegte Bilder eingehen oder beschränken Sie sich hierbei auf die Profilbilder der Nutzer?
12.11.2010 – 13.04 Uhr
Hornuff: Diese Einschränkung wäre albern – aus einem simplen Grund: Zwischen den Profil- und den Videobildern besteht kein funktionaler Unterschied. Beide Bildformen dienen der Identitätsbildung. Gleichzeitig wird eine ernsthafte Analyse der Plattformen versuchen, die Bedeutungsabstufungen zwischen den einzelnen Bildkategorien zu bestimmen. Wie wichtig diese Differenzierungsarbeit ist, zeigt sich vor allem bei Videos, in denen sich die Nutzer selbst zeigen und damit so etwas wie performative Selbstbildnisse entwerfen. Künstler begannen zur Mitte des 16. Jahrhunderts, sich als Vertreter eigener Stände in Szene zu setzen. Ähnlich versuchen heute viele YouTube-Nutzer, durch eine Selbstpräsentation ihren bevorzugten Lebenskontexten Geltung zu verschaffen.
Bieling: Ihre Frage legt eine scharfe Trennlinie zwischen den Profilfotografien und den eingestellten Videos nahe. Damit würde man die beiden Bildformen in ihrer Relevanz gleichsetzen, was sich aber als unpassend erweist. Wenn Sie etwa die Videos der vielen Benutzer in Betracht ziehen, die Songs von Stars wie Rihanna, Britney Spears oder Beyonce nachsingen, werden Sie bemerken, dass die Profilfotografien der einzelnen Benutzer mit der Zeit eine immer geringere Wichtigkeit besitzen. Die Inszenierungen der Benutzer werden nämlich immer stärker über den Zusammenhang der Videos rezipiert und weniger über die Profilfotografien. Wer das beachtet, wird auf eine Form stetig aktualisierter Bildinszenierung stoßen, die schwerlich in anderen Kontexten zu finden ist. Ein Anliegen unseres Buches ist deshalb, was YouTube betrifft, zu zeigen, wie stark sich hier eine Form der Selbstrepräsentation etabliert hat, die im Rahmen von Chronologien, von einander folgenden Einzelvideos, gestaltet wird.
12.11.2010 – 20.14 Uhr
Wie geht es mit dem Schreiben des Buches voran? Wann können unsere Leser mit der Publikation rechnen?
13.11.2010 – 15.18 Uhr
Bieling: Das Buch erscheint Mitte 2011 unter dem Titel „Wir sind Bild! Die visuelle Kultur der sozialen Netzwerke“.
Weitere Information zu Daniel Hornuff und Simon Bieling sowie ihrem Buch findet Ihr auf ihrem Blog „Bildfähig! Über die Bilder der zeitgenössischen Kultur“.