Für die Erforschung des Kunsthandels in der Zeit des Nationalsozialismus steht mit dem Projekt „German Sales 1930-1945. Art Works, Art Markets, and Cultural Policy“ eine neue Quellenbasis zur Verfügung, in der erstmals alle Auktionskataloge aus den Jahren 1930 bis 1945 systematisch gesammelt, bibliografisch erfasst, digitalisiert und online zugänglich gemacht werden. Partner des internationalen Gemeinschaftsprojekts sind die Universitätsbibliothek Heidelberg (Digitalisierung), die Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin (Bibliographie) und das Getty Research Institute in Los Angeles (Sammlung und Bereitstellung der Daten). Die rund 2600 Kataloge werden von dreißig Bibliotheken aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bereitgestellt. Derzeit sind bereits 300 000 Seiten digitalisiert, voraussichtlich im Januar 2013 werden ca. 1 Million Datensätze im Getty Provenance Index abrufbar sein. Vorrang bei der Eingabe haben zunächst Gemälde, Plastiken und Graphik. Die Digitalisierung ermöglicht die Volltextsuche, durch eine offene Schnittstelle werden Suchergebnisse auch in Google angezeigt.
Herr Gaehtgens, in ihrer beruflichen Laufbahn können Sie auf zahlreiche Stationen zurückblicken, so waren Sie Gründungsdirektor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris, das Sie zehn Jahre lang geleitet haben. Seit 2007 ist das Getty Ihre Wirkungsstätte – wird es Ihre letzte Station sein?
Das weiß man im Leben natürlich nie. In der Tat ist meine Laufbahn am Getty zu einem gewissen Höhepunkt gekommen. Es ist ein unglaublich eindrucksvolles Institut, und ich bin dort sehr glücklich. Gleichzeitig ist diese Position aber auch eine tägliche Herausforderung. Ich habe 168 Mitarbeiter, circa 50 weitere auf Kontraktbasis und etwa 40 Scholars, so dass ich ununterbrochen von einem Team von etwa 250 Mitarbeitern umgeben bin, das wiederum auf verschiedene Departments verteilt ist. Und schließlich ist es eine Institution, auf die die ganze Welt blickt und beobachtet, was wir dort machen – das ist mir natürlich bewusst. Diese Herausforderung macht aber auch großen Spaß, da man mit den Mitteln, über die wir verfügen, etwas bewirken kann.
Begegnung mit anderen Kunstgeschichten
Was haben Sie als Direktor des GRI in den vergangenen fünf Jahren bewirken können?
Zunächst einmal habe ich fabelhafte und hochprofessionelle Mitarbeiter, ohne die man alleine wenig bewirken kann. Wir haben das Institut in mancher Hinsicht umorientiert und ihm eine neue Perspektive gegeben. Das Institut war, sieht man von den Forschungen der eingeladenen Scholars ab, nur beschränkt selbst mit Forschungsprojekten aktiv. Heute arbeiten wir mit Forschern aus der ganzen Welt zusammen, laden sie zu uns ein und bringen sie in unsere Archive. Unsere Sammlungen werden nun intensiv genutzt und die Forschungsergebnisse in dem jüngst gegründeten Getty Research Journal veröffentlicht. Das GRI ist ein Treasure-Haus, in dem man für Jahrzehnte Dissertationsthemen finden kann. Wir haben eine Vielzahl von noch nicht aufgearbeiteten Nachlässen von Künstlern, Kunstkritikern, Galeristen, Architekten und Kunsthistorikern. Gerade kürzlich haben wir das bedeutende und umfangreiche Archiv von Harald Szeemann angekauft. Stellen Sie sich vor, welches Research-Potenzial für das 20. und 21. Jahrhundert allein in diesem Nachlass steckt.
Das GRI war immer eine Institution der „Western Tradition“, aber wir sind nicht die Bibliotheca Hertziana in Rom, das Kunsthistorische Institut in Florenz oder das Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris. Wir befinden uns in Los Angeles, an der Westküste der Vereinigten Staaten, wo jede Sprache dieser Welt gesprochen wird und von wo aus wir nach Südamerika und über den Pazifik hinweg nach Asien blicken. Dieser Situation muss auch das GRI entsprechen. Wir haben das Institut deshalb auf „Encounter“, also auf Begegnung von Kulturen hin orientiert. Wir wollen stärker ins Bewusstsein bringen, dass es neben der klassischen westlichen Kunstgeschichte auch andere Kunstgeschichten gibt. Sie sind in Heidelberg verwöhnt, da die ostasiatische Kunstgeschichte hier schon seit Jahrzehnten gelehrt wird. Wir müssen auf die heutigen globalen Herausforderungen antworten, indem wir das Gespräch mit den Kollegen weltweit suchen und die Möglichkeiten einer gemeinsamen Erarbeitung von Methoden ausloten.
Datenbanken müssen zum Leben erweckt werden
Aus diesem Impuls heraus entstand auch das Kooperationsprojekt „German Sales 1930-1945. Art Works, Art Markets, and Cultural Policy“, das in den Getty Provenance Index eingebettet ist. Kann man sagen, dass die Idee zum Projekt wesentlich dadurch bestimmt ist, dass Sie als Deutscher das Institut leiten?
Vielleicht in gewisser Weise. Aber zunächst müssen Sie wissen, dass „German Sales“ ein Projekt unter vielen ist. Wir haben im Moment allein 18 Forschungsprojekte. Der Getty Provenance Index hat allerdings als Forschungsunternehmen bereits eine lange Geschichte. Der Index ist lange Zeit als eine reine Datenbank betrieben worden. Man muss aufpassen, dass Datenbanken nicht zu Sputniks werden, die sich um die Erde drehen, aber nichts mehr senden. Sie sind Arbeitsmittel, die zum Leben erweckt werden müssen. Die bloße Eingabe von Daten ist wichtig, allerdings müssen diese wertvollen Informationen genutzt werden. Datenbanken müssen durch Forschungsprogramme ergänzt werden.
Wir haben uns vor einigen Jahren entschieden, den Provenance Index, der mit der Renaissance beginnt und im frühen 19. Jahrhundert endet, ins 20. Jahrhundert hinein zu erweitern. Mit der Epoche 1933 bis 1945 zu beginnen, lag nahe, da wir einen wichtigen Beitrag zu dem noch weitgehend unerforschten Kunstmarkt in dieser Zeit leisten konnten. Es besteht ja noch viel Unsicherheit über die Provenienzen, die Preise und die Käufer und Verkäufer von Kunstwerken in dieser Epoche. Mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Volkswagenstiftung und dem National Endowment for the Humanities konnten wir mit diesem aufwendigen Unternehmen beginnen. Bei der Überlegung, mit welchem Partner man ein solches Projekt angehen kann, kam neben der Kunstbibliothek Berlin nur die Universitätsbibliothek Heidelberg mit ihrem Sammlungsschwerpunkt Kunstgeschichte und ihrer Digitalisierungserfahrung in Frage.
Große Quellen erschließt man mit kleinen Inseln
Im Getty Provenance Index klafft nun eine große Lücke zwischen 1800 und 1930. Wird die Datenbank diese Zeitspanne in Zukunft noch abdecken?
In der Tat haben wir nun einen großen Sprung ins 20. Jahrhundert gemacht, aber ich wäre unglücklich, wenn wir gerade für die „German Sales“ nicht auch die 1920er Jahre einbeziehen könnten. Ich bin der Ansicht, dass man die 30er Jahre ohne das vorangegangene Jahrzehnt gar nicht verstehen kann. Die Nazizeit wird häufig zu isoliert betrachtet. Der Kunsthandel, aber auch die Familien- und Sozialgeschichte sind bisweilen so komplex, dass es nicht ausreicht, die Forschung nur auf die Zeit zwischen 1930 und 1945 zu stützen.
Man muss auch festhalten, dass es zwar einen großen Schritt bedeutet, die Auktionskataloge dieser Epoche zu digitalisieren und die Daten in einer Datenbank zugänglich zu machen. Aber diese Daten sind längst nicht die einzigen Quellen. Der Index muss auf lange Sicht mit weiteren Quellen angereichert werden. Da sind beispielsweise Zeitschriften wie „Pantheon“, die Auktionsergebnisse veröffentlicht haben, oder Buchführungen, die die Behörden in der Epoche des Dritten Reiches vorgenommen haben, zu berücksichtigen. Auch die Galerieverkäufe müssten noch näher untersucht werden. Aber das ist natürlich immer eine Frage der Mittel, die für solche Forschungsprojekte zur Verfügung stehen. Es gibt in diesem Bereich noch viel zu tun.
Ihre Frage zum 19. Jahrhundert ist nur zu berechtigt. Das Jahrhundert fehlt im Provenance Index noch weitgehend. Dies liegt vor allem an zwei Gründen: Zum einen hatte man bescheiden angefangen, die Provenienzen der Sammlung von J. Paul Getty aufzuarbeiten, die vor allem aus früheren Epochen stammt, und dann die des Museums. Die Datenbank hat sich immer stärker entwickelt, als 1983 das Forschungsinstitut begründet wurde. Über Jahre hinweg wurden Inventare und Versteigerungskataloge aus Italien, Frankreich, England und Deutschland in die Datenbank eingegeben, die heute zu einem unverzichtbaren Nachschlagewerk geworden ist. Es ist dies vor allem das Werk ihres Begründers, Burton Fredericksen, der seit Jahrzehnten den Provenance Index aufgebaut hat und weiter vervollständigt.
Und zum anderen muss man einsehen, dass das 19. Jahrhundert ein so übermäßig reiches, fast unüberschaubares Jahrhundert im Kunsthandel war, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Vielleicht sollte man mit kleinen Inseln beginnen, die dann allmählich wachsen. Aber allein die Einarbeitung des französischen Kunsthandels würde uns wahrscheinlich Jahrzehnte kosten. Aber Sie haben Recht, im Prinzip ist das eine Lücke, die so wichtig ist, dass man sie schließen müsste.
Kunsthistorische Literatur für die ganze Welt
Sie haben vor wenigen Tagen das groß angelegte „Getty Research Portal“ gelauncht.
Ja, wir haben ein Online-Portal eingerichtet, mit dem die gesamte kunsthistorische Literatur vor 1923 kostenfrei zugänglich gemacht werden soll. 1923 ist das Copyright-Datum, nach dem wir uns in den USA richten müssen. Natürlich ist das Portal ein Work in progress, aber wir starten bereits mit 20 000 digitalisierten Titeln. Die Universitätsbibliothek Heidelberg ist einer unserer engsten Kooperationspartner für das Projekt. Für mich ist das ein bahnbrechendes Unternehmen, ein Weg in die Digital Humanities, die wir mit Leben erfüllen müssen. In Chile oder in China können Sie jetzt Vasari genauso lesen, wie in Berlin oder in Heidelberg. Und vor allem, es wird Bücher in allen Sprachen geben. Das Getty Research Portal wird nicht nur auf die westliche Kultur beschränkt bleiben, sondern auch die Literatur über die Kunst Chinas, Japans oder Indiens sowie die präkolumbianische Kunst umfassen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass das Portal den Umgang mit den Quellen revolutioniert. Es bedeutet eine ganz neue Perspektive für die Kunstgeschichte und die kunsthistorische For-schung. Stellen Sie sich vor, Sie müssen nicht mehr in die Rara-Abteilung der Universitätsbibliothek gehen, sondern finden sämtliche Quellen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zuhause zum Durchblättern. Dieses Material wird auch den Studierenden und Wissenschaftlern in Ländern zugänglich, die nicht über die großartigen Bestände der Heidelberger Universitätsbibliothek oder des Getty Research Institutes verfügen.
Finden Sie neben diesen Aktivitäten noch die Gelegenheit, um selbst zu forschen?
Meine Aufgabe am Getty geht leider ein wenig zu Lasten von eigener Forschung. Es ist schwieriger geworden, mich dafür zurückzuziehen. Aber ich versuche es, vor allem am Wochenende oder an Abenden. Denn wenn man nicht selbst forscht, kann man ein solches Forschungsinstitut im Grunde nicht leiten. Ich wäre vermutlich auch kein interessanter Partner für die Scholars, die wir aus der ganzen Welt ans Getty Research Institute einladen.
Das Portal „German Sales 1930-1945. Art Works, Art Markets, and Cultural Policy“ ist hier zu finden.
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