Sie plädieren für eine „autonome Akademie für autonome Kunstkritik“. Was versprechen Sie sich für die Kunstkritik und die Kritiker von solch einer Institution?
Bislang kennen wir die Hochschulen, die Künstler ausbilden, Museen, die Kunst zeigen und Messen, auf denen Galeristen vertreten sind. Für die Kunstkritiker hingegen gibt es keine Anbindung. Es gibt zwar einen Verband, die AICA, aber in dem sind auch viele Museumsleute und Kuratoren vertreten. Nun bin ich kein besonders institutionengläubiger Mensch, bin aber dennoch überzeugt, dass es eine Stärkung des Selbstbewusstseins der Kritiker bedeutet, wenn es eine Zentrale gibt, in der Praxisformen reflektiert und auch Standards formuliert werden, die es nicht zu unterschreiten gilt.
Aktuell gibt es solch eine Einrichtung für Kunstkritiker noch nicht. Welchen Ausbildungsweg empfehlen Sie Kunsthistorikern, die gerne den Beruf des Kunstkritikers ausüben möchten?
Es gibt keinen richtigen Weg in den Beruf des Kunstkritikers. Wenn man aber als Kunsthistoriker schon die Lust verspürt, sich mit aktueller Kunst auseinanderzusetzen und sich mit journalistischen Themen zu befassen, sollte man sich während des Studiums im Schreiben versuchen. Denn es ist ja eine Mischung von Fähigkeiten, die man idealerweise mitbringen oder entwickeln sollte, also den neugierigen Blick, Einfühlungsvermögen ebenso wie analytisches Denken, die Lust sich vertiefend mit Phänomenen der Gegenwartskunst zu befassen und die eigenen Beobachtungen allgemeinverständlich zu formulieren. Das heißt, sich ein eigenes Urteil zu bilden und dieses so in Worte zu fassen, dass es für andere nachvollziehbar und reizvoll wird in der Lektüre. Es ist klug, sich möglichst früh im Schreiben zu üben. Dafür bieten sich verschiedene Formen und Medien an, etwa die klassische Tageszeitung oder auch Foren im Internet.
Muss man anfänglich Blockbuster-Ausstellungen loben, um als Kunstkritiker oder überhaupt als freier Kunstkritiker überleben zu können?
Das Überleben ist schwierig, das stimmt. Es gibt für Kunstkritiker bisher so gut wie keine Stipendien oder Preise. Zeitungen zahlen schlecht, die Internetforen zahlen in der Regel gar nicht. Es gibt also nur sehr wenige Leute, die von der Kritik leben können. Das ist umso absurder, weil ja längst anerkannt ist, dass die Rezeption und Reflexion ein zentraler Bestandteil jedes Kunstwerks ist. Nur was als Kunst erkannt, diskutiert und bewertet wird, ist überhaupt Kunst. Der Kritiker, so könnte man zugespitzt sagen, ist ähnlich wichtig wie der Künstler. Es gibt für ihn aber weder eine staatliche Ausbildung, noch Förderprogramme oder sonst wie Unterstützung. Was wir also brauchen, ist ein Bewusstseinswandel: Die Leistungen und die Notwendigkeit der Kritik müssen endlich anerkannt werden, auch materiell. Eine Akademie müsste diesen Bewusstseinswandel befördern.
Aber konkret zu Ihrer Frage. Ich weiß nicht, ob das Loben einer Blockbuster-Ausstellung direkte Auswirkungen hätte, positive oder negative. Natürlich haben Sie recht, es gibt diese Befürchtung, dass es sich ein kritischer Kritiker mit den verschiedenen Abteilungen des Kunstbetriebs verscherzen könnte. Vermutlich ist es auch tatsächlich so, dass derjenige, der unbequeme Fragen stellt und sich dem allgemeinen Geschmackskonsens nicht unterordnet, zu bestimmten Partys oder Events nicht eingeladen, manchmal auch geschnitten oder gemieden wird. Aber vielleicht gehört das auch zu den beschriebenen Fähigkeiten eines Kritikers dazu: Man sollte sich nicht vor der Rolle des Außenseiters scheuen.
Sie sprechen einen möglichen Interessenskonflikt oder eine Interessenvermengung an?
Ja, der Kunstkritiker muss sich vor vielen Interessenskonflikte hüten. Gerade weil die materielle Basis so dünn ist, gibt es viele Kritiker, die gleichzeitig anderen Beschäftigungen nachgehen, beispielsweise als Kuratoren für ein Museum arbeiten, Künstler betreuen oder eine eigene Galerie betreiben. Um ein Beispiel zu nennen: Eine Redakteurin eines großen Kunstmagazins hatte vor einigen Jahren eine Anzeige geschalten, sie würde gerne Sammler über Messen und durch Galerien führen und Kontakte vermitteln. Im Kunstbetrieb ist dieses Multirollenspiel nicht ungewöhnlich, im klassischen Journalismus wäre das nicht vorstellbar. Ich kann nicht die Rede eines Bundestagsabgeordneten schreiben und gleichzeitig über diese Rede berichten. In Kunstkritikerkreisen ist aber das Bewusstsein für solche unlauteren Interessensvermengungen nicht besonders ausgeprägt.
Isabell Graw spricht sich für das „Ideal einer unabhängigen Kritik“ aus, darauf haben Sie in Ihrem Essay verwiesen. Wie kann sich die Kritik aus ihrer Abhängigkeit befreien?
Ja, wie kommt man da raus? Die Frage muss sich jeder erst einmal selbst stellen. Wo gerate ich in Interessenskonflikte, welche will und muss ich vielleicht eingehen und welche nicht? An welchem Punkt verliere ich meine innere Unabhängigkeit und meine Glaubwürdigkeit vor mir selbst und vor anderen. Glaubwürdigkeit ist das Grundkapital eines guten Kritikers. Nur so wird er Ernst genommen, weil er als unabhängig gilt und nicht von anderen Interessen und Absichten gesteuert ist.
Und dann ist da noch die Strukturfrage. Es ist wichtig, langfristig – und vielleicht auch mit Hilfe einer Akademie für Kunstkritik – darauf hinzuwirken, Kunstkritiker so zu entlohnen, dass sie sich Unabhängigkeit leisten können.
Muss man vielleicht auf Urteile verzichten, wie es die amerikanischen Kollegen propagieren oder auch die Kanadierin Jennifer Allen, die mit dem Preis des ADKV für Kunstkritik ausgezeichnet wurde? Allen beispielsweise sagt ganz deutlich, Sie möchte nicht nach Ihrer Meinung gefragt werden, allein die Kunst und das Erkenntnisinteresse sollten im Vordergrund stehen. Braucht Kunstkritik überhaupt Urteile?
Ja, sonst ist Kunstkritik nicht Kunstkritik, sondern nur Larifari. Außerdem, was spricht eigentlich gegen das Bewerten und Beurteilen? Manche tun so, als bräuchte es diese Urteile nicht, in Wahrheit wird aber ständig bewertet und selektiert. Wenn Preise vergeben werden, muss geurteilt werden. Wenn jemand einen Ankauf für ein Museum rechtfertigt, muss ein Urteil abgegeben werden. Wenn ein Galerist einen Künstler aufnimmt oder ablehnt, muss ein Urteil abgegeben werden. Es bedarf also ständig der Bewertung und das ist doch auch interessant: dass sich unterschiedliche Positionen gegeneinander abzeichnen und man sich aneinander reiben kann. Diese Reibungswärme ist ein Teil der Faszination, die Kunst ausmacht.
Lassen Sie uns darüber sprechen, wie eine Kunstkritik aussehen kann. Sollte man der Interpretation den Vorrang vor der Bewertung geben? Wie wichtig sind ausführliche Beschreibungen in einer Kunstkritik?
Das hängt sehr stark davon ab, für wen man schreibt, welches Publikum man im Auge hat und um welchen Künstler es sich handelt. Grundsätzlich ist es gut, Assoziationen aufzurufen, um die eigenen Empfindungen in der Begegnung mit dem Kunstwerk in Begriffe zu überführen. Man muss sich erst einmal darüber klarwerden, was man sieht, was man wahrnimmt und in welchem Zusammenhang dies steht, also das Vorbegriffliche und das Begriffliche miteinander verbinden und zwar so, dass es für den Leser interessant ist.
Natürlich ist es gut und wichtig sich dafür zu öffnen, was im Kontext eines jeweiligen Werkes steht, es im zeithistorischen Zusammenhang zu sehen und sich nicht zu scheuen, eigene Gefühle und Emotionen mit hineinzubringen. Am Ende mündet eine solche Beschreibung, wenn sie gut ist, auch in eine Bewertung. Die Gründe für eine positive oder negative Bewertung, ergeben sich aus der Beschreibung.
In den letzten Jahren gab es heftige Diskussionen um die Kriterien der Kunstkritik. Wenn sie Kunstkritiken verfassen, haben Sie für sich einen Kriterienkatalog, den sie anwenden?
Nein, ich trage keinen Kriterienkatalog mit mir herum. Es ist dennoch wichtig, dass man in dem Moment, in dem man über Dinge schreibt, sich bewusst ist, nach welchen Kriterien man urteilt. Das sind nicht immer dieselben. Es hängt stark davon ab, über was und zu welchem Zeitpunkt, über welche Epoche und welches Kunstwerk man schreibt. Die Kunst hat sehr unterschiedliche Funktionen, sie hat in den unterschiedlichen Lebensbereichen unterschiedliche Aufgaben. Sie ist nicht autonom, wie es klassischerweise gedacht wird, sondern ist in unterschiedlichen Zusammenhängen eingebunden. Je nachdem, in welchen Zusammenhängen sie auftritt, kann sie auch ganz unterschiedliche Rollen spielen. Je nach Rolle muss man zu anderen Qualitätskriterien greifen.
Insofern gibt es die Verpflichtung eines jeden Kritikers, die eigenen Kriterien sichtbar zu machen. Bei einer guten Kritik wird spürbar, warum der Kritiker ein bestimmtes Werk schätzt und für gut heißt und ein anders nicht. Nichts ist schlimmer als diese beliebten, oft plumpen Schlagworte: ein hinreißendes Werk! Ein grandioser Künstler! Ein katastrophaler Ansatz! Das hat mit Kritik nichts zu tun, solange das Urteil nicht begründet wird.
Haben Sie einen Tipp für die Teilnehmer unseres Artikelwettbewerbs in der Kategorie Kunstkritik, worauf Sie beim Schreiben achten sollten?
Das hängt wie gesagt von den Medien ab. Wichtig ist, nicht nur für andere Kritiker, Künstler und Galeristen zu schreiben. Man sollte nicht nur innerhalb der Szene bleiben, mit dem was man beobachtet und was man als richtig erkennt. Vielmehr sollte man versuchen, das Feld zu öffnen. Kunst hat, wie viele andere Szenen auch, eine starke Neigung, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen, sich abzukapseln und sich zu immunisieren gegen Kritik, die von außen kommt. Man sollte versuchen, über schwierige, komplexe Kunstinhalte so zu schreiben, dass sie auch für Leute interessant werden, die sich mit Kunst sonst nicht so sehr beschäftigen. Das ist eine Herausforderung. Wie kann ich Interesse mobilisieren, ohne dass alle von Kunst überzeugt werden müssten. Es muss darum gehen, ein allgemeines Gespräch anzuregen. Darin sehe ich eine Aufgabe der Kunstkritiker.
Kunstvermittlung ist ein Begriff, der gerne verwendet wird. Damit wäre ich vorsichtig, denn das klingt so, als gäbe es auf der einen Seite die Kunstexperten – also die Künstler und die Kunstkritiker – und auf der anderen Seite das dumme, laienhafte Publikum, das eigentlich nur konsumieren will und von nichts eine Ahnung hat. Was ich mir vorstelle und was Sinn und Zweck einer Akademie der Kunstkritik wäre, ist das allgemeine Gespräch über Kunst zu fördern. Die Begriffs- und Sprachlosigkeit, die ich zum Teil beobachte, müsste dahingehend geändert werden, dass sich alle aufgerufen fühlen, eigene Urteile zu bilden und damit die Kunstwelt zu bereichern.
Am 15. November ist Einsendeschluss in der Kategorie Kunstkritik des artefakt-Artikelwettbewerbs.