Ein Sommertag in Berlin: Vor dem Bunker in der Fichtestraße unterhält sich eine Gruppe junger Menschen. Die Tür öffnet sich und aus dem hinter dicken Steinmauern liegenden Dunkel dringen augenkneifende Ausstellungsbesucher ans Tageslicht und pressen erleichterte „Aaahh’s“ und „Uuuh’s“ hervor. Hinter ihnen liegt der zwischen 1874 und 1876 erbaute Fichtebunker und der Besuch der Ausstellung „now open for off season. Endzeiten in der Gegenwartskunst“. Die Geschichte des Fichtebunkers ist auf Schritt und Tritt spürbar. Als Gasometer von einem Schinkel-Schüler errichtet und in Zeiten der Elektrizität überflüssig geworden, wurde er während des Dritten Reiches zum Hochbunker umfunktioniert und musste nach Kriegsende als Straflager für Jugendliche und als Obdachlosenasyl herhalten. Der inzwischen denkmalgeschützte Bunker war lange Zeit nicht für die Öffentlichkeit zugänglich.
Und nun Kunst im Bunker? Offenbar handelt es sich dabei um einen neuen Trend, nachdem erst 2008 der Werbemillionär Christian Boros seine Privatsammlung in Berlin in einem eigens dafür umgebauten Innenstadtbunker der Öffentlichkeit zugänglich machte und Baden Württemberg sich aktuell mit seinem Kunst‑ und Designcenter b-05 ebenfalls einen Bunker im Namen der Kunst zu eigen macht. Auch München hat mit dem Kunstbunker Tumulka bereits seit 1993 einen privat finanzierten Bunker für zeitgenössische Kunst und sogar das sonst im Kunstbetrieb eher unauffällige Nürnberg betreibt einen solchen als Ausstellungsraum mit dem Schwerpunkt auf Ausstellungen zeitgenössischer Bildender Kunst. Als ein „Präsentations‑ und Experimentierfeld, mit der Ergänzung um Gespräche, Vorträge und Diskussionen“ versucht ein gemeinnütziger Verein hier ein interdisziplinäres Forum zu realisieren. Fakt ist, dass in Zeiten des Kalten Krieges die zahlreichen Kriegsüberbleibsel als Lagerräume oder ähnliches ein unspektakuläres Dasein fristeten und ein Abriss sich auch nach der Wiedervereinigung als äußerst schwierig gestaltete. Was also tun mit den Steinmassen? Die Bunker sind größtenteils im Besitz der Kommunen, die in Zeiten knapper Kassen gegenüber Käufern und potentiellen Zwischennutzern relativ offen und flexibel agieren.
Kuratorische Praxis statt Badesee
Anders liegt der Fall bei der ersten Ausstellung, die in den Räumen des Fichtebunkers zu sehen ist, denn hier hat kein vermögender Privatsammler wie Boros seine Hände im Spiel. Eine Gruppe Kunstgeschichtsstudenten von der Freien Universität Berlin unter der Leitung der freien Kuratorin Dr. Anna-Carola Krausse steckt hinter dem ungewöhnlichen Projekt. Alles begann vor zwei Semestern im Rahmen des Seminars „Kuratorische Praxis“ mit 20 Studenten. Es musste recherchiert, diskutiert, beschlossen, verworfen und umgesetzt werden. Es ist kein leichtes Unterfangen in einer kulturüberschwemmten Stadt eine Ausstellung auf die Beine zu stellen, die die Leute hinter dem Ofen hervorlockt und das ohne Erfahrung, Geld und Referenzen. Doch trotz heißer Sommerwochen, zahlreicher Badeseen im Berliner Umland und großer Konkurrenzschauen standen am Tag der Eröffnung die Besucher in der Schlange und warteten auf Einlass. Die Studenten haben ihr Ziel erreicht, das sieht man in den anerkennend nickenden Gesichtern der Besucher und an den fast durchweg positiven Pressestimmen, die die lokalen Printmedien bis hin zur Frankfurter Rundschau umfassen.
Der Ausstellungsort ist in seiner beklemmenden Schwere kein einfacher Raum für junge, aufstrebende Künstler. Die Tatsache, dass es sich um eine von Studenten der Kunstgeschichte kuratierte Ausstellung handelt, überrascht, denn was sie zum Glück vermissen lässt, ist Unbedarftheit. Auf zwei Stockwerken sind die etwa 38 Werke überwiegend junger in Berlin und Dresden arbeitender oder studierender Künstler bestens organisiert. Hier geht es um Kunst, die im Dialog steht mit dem Raum und seiner zwiespältigen Geschichte als Gasometer, Schutzbunker, Strafanstalt und Obdachlosenheim. An keiner Stelle wird diese vertuscht, um einen neutralen Rahmen zu schaffen, wie man ihn von Museen und Galerien spätestens seit der Moderne und neuerdings von in den letzten 15 Jahren entstandenen Kunstbunkern gewohnt ist. Der an die mundgerechte Kunstvermittlung großer Museen gewohnte Besucher ist zunächst irritiert, finden sich an den Wänden doch keinerlei Erklärungen zu Künstlern und Kunstwerken. Dies ist eher als mutiges Statement der Kuratoren, denn als Mangel zu werten: Dem Rezipienten bleibt vorerst keine andere Wahl als zu betrachten und zu reflektieren.
Würde Benjamin erschaudern?
Betritt man neugierig das kreisrunde Gebäude, so ist man ohne Führung zunächst tatsächlich etwas orientierungslos. Verloren steht man in dem dunklen, unfreundlichen und kalten Eingangsraum, in dem das Gemälde der 48-jährigen Berliner Künstlerin Bettina Düesberg hängt, das man als Titelmotiv der Ausstellung möglicherweise kennt. Das Gesicht einer jungen Frau blickt in überlebensgroßem Format auf etwas, das dem Betrachter verborgen bleibt. Ihr Gesichtsausdruck suggeriert innere Bewegtheit, Emotionen, aber darin Überraschung, Schock, Freude, Trauer oder Angst zu erkennen, bleibt dem Betrachter selbst überlassen. Aufmerksamkeit ist dem Gesicht sicher, aber es wirft erst einmal mehr Fragen auf als es zu beantworten bereit ist. Der uneindeutige Gesichstausdruck des Mädchens solle als „Spiegel des Betrachters“ fungieren, so die Intention der Künstlerin, die in Kreuzberg eine offene Atelier-Galerie betreibt. Auch die Frage nach dem weiteren Weg bleibt unbeantwortet, denn kein Pfeil weist diesen. Die schweren Betontüren wagt man nicht um Einlass zu bitten und so ist es eine Frage der Zeit, bis man den einzigen Weg ins Herz des Bunkers findet.
In der Mitte des nächsten Raumes, der durch seine Höhe eine kirchenähnliche Ausstrahlung hat, steht eine Betonsäule. Ihre Form erregt zunächst keine außergewöhnliche Aufmerksamkeit, doch die zentrale Position und ein kurzer Blick in den am Einlass verteilten Ausstellungskatalog lösen ein Kribbeln im Betrachter aus. Die Vorstellung, dass eine vom Künstler und angehenden Mediziner Markus Hoffmann injizierte Pilzkultur innerhalb des leblosen Steins sich genau in diesem Moment explosionsartig vermehren und man selbst Zeuge der Sprengung des unscheinbaren Klotzes werden könnte, lässt einen das Kunstwerk mit einem seltsamen Gefühl im Magen betrachten. Der Gegensatz von toter und lebendiger Materie schafft eine Aura, wenn auch eine etwas andere als diejenige, die Walter Benjamin dem Kunstwerk zuschrieb. Oder vielleicht würde gerade er vor der einmaligen Ausstrahlungskraft des Monolithen erschaudern, deren Reproduzierbarkeit unmöglich wäre? Nicht von ungefähr stammt diese Arbeit von einem Schüler Olafur Eliassons, der mit seinen raumgreifenden Werken weltweit für Furore sorgt.
Ein ähnlich intensives Erlebnis provoziert ein weiterer Eliasson-Schüler, der im oberen Stockwerk einen langen dunklen Gang bespielt. Felix Kiesslings raumgreifende Installation „Schwindel“ verlangt zunächst einmal viel Überwindung vom Ausstellungsbesucher. Hinter einem der zahlreichen Durchgänge, eröffnet sich rechts und links jeweils ein Gang. Zu beiden Seiten liegt ungewisses Dunkel, rechts jedoch erscheint ein kleiner Lichtpunkt, der dem Schein einer kleinen Lampe oder eines Diaprojektors ähnlich ist. Doch handelt es sich hierbei um Kunst? Soll man sich in das Dunkel wagen, von dem man nicht weiß, was es am Ende bereit hält? Oder ist es vielleicht gerade das Gefühl von Unsicherheit und Verlorenheit, das vermittelt werden soll auf dem Weg zum tischtennisballgroßen, weißen Körper, der angestrahlt von einem Diaprojektor wie ein vergessener Planet im dunklen Raumuniversum schwebt? Spätestens dieser Moment der ungewohnten Raum‑ und Körpererfahrung lässt den Betrachter die Außenwelt vergessen. Die zwischen den schweren Mauern schwebende Atmosphäre hat den Ausstellungsbesucher nun endgültig in sich aufgesogen.
Nichts für ängstliche Naturen
Nicht alles vermag derart zu beeindrucken wie die beklemmende Installation „Sanctuary“ von Markus Hoffman, der schon mit dem Monolith im Erdgeschoss irritierte. Ein schwarzer Anzug scheint über einem Haufen Asche zu schweben. Die Asche entspricht den 4 % Restsubstanz, die vom menschlichen Körper nach der Verbrennung zurückbleiben. Ein begrenzender Salzkreis und eine Graphitzeichnung, die an einen Embryo erinnert, deuten auf einen natürlichen Kreislauf hin: „everything has to be transformed“. Mit diesen Worten umschreibt der Künstler sein Werk. Was dominiert ist allerdings der Eindruck der Abwesenheit des menschlichen Körpers, der in einem Häufchen toter Asche am Boden ruht.
Am Ende der langen Gänge angelangt, lehnt eine der alten abgenutzten Türen, die man aus den Ausstellungsräumen entfernt hat, um sie zu Erklärungstafeln umzufunktionieren. Sie erzählt die Geschichte des Bunkers und erklärt die Kreidezeichnungen, mit denen Gefängnisinsassen die Zeit festhalten; ein ungeliebter Ort, auch wenn er mehreren Zehntausenden im Bombenhagel das Leben rettete. Nach Glück und Freude riecht hier nichts. Plötzlich wird alles schwarz, wenn auch diesmal eher zufällig, denn ein Bewegungsmelder regelt die Lichtschaltung. Der Effekt verfehlt seine Wirkung nicht und so nähert sich der nach einer Lichtquelle Suchende unbehaglich dem letzten Videokunstwerk im ehemaligen Bad und Toilettenraum des Bunkers, dessen Anblick alter Klosetts und nun künstlerisch umfunktionierter Wände letzte zwiespältige Phantasien hervorruft. „Apocalypse now – Nichts für ängstliche Naturen“, hätte man vor Betreten dieses ungewohnten Erlebnisses warnen sollen. Auf dem Weg zurück zum Ein‑ und Ausgang ziehen die vielfältigen Präsentationen noch einmal vorüber. Erleichtert sich nicht verlaufen zu haben und nicht in ein dunkles Loch gefallen zu sein, wird man sich der unendlichen Möglichkeiten „Endzeit“ in der Kunst zu reflektieren bewusst und ist froh hinter der Stahltür die Jetzt-Zeit zu erblicken. So lassen sich die erleichterten Seufzer der Ausstellungsbesucher nach Verlassen des Bunkers erklären.
Träume von Stromkabeln
Was das Projekt heraushebt aus dem kontemporären Ausstellungsbetrieb ist die Präsentation außerhalb eines institutionellen oder kommerziellen Umfeldes an einem Ort, der auch ohne die installierten Kunstwerke zur Reflektion über Geschichte und Schicksale anregt. Was hier in Kombination mit zeitgenössischer Kunst gelungen ist, sucht seinesgleichen − so polarisieren die verschiedenen künstlerischen Positionen und gehen eine zwiespältige Symbiose mit den dicken Stahlbetonwänden des Koloss ein. Nicht jedes Kunstwerk profitiert von den Massen, von der Schwere, von der Dunkelheit oder vermag es weniger als andere die Möglichkeit der Ambivalenz zu nutzen. Gelungen ist es den studentischen Kuratoren dennoch, Geschichte und Gegenwartskunst in einen interessanten Dialog zu setzen, ohne deren Wirkungsmöglichkeiten einzugrenzen. Momente der Langeweile kommen nie zu ihrer vollen Entfaltung, wartet doch spätestens zwei Kammern weiter eine Überraschung oder zumindest ein körperliches oder ästhetisches Erlebnis. Überhaupt ist körperlich ein Wort, das an vielen der ausgestellten Werke haftet, Beklemmung ist ein zweites.
Viel hängt also mit dem Ausstellungsort zusammen. Dass er nun für eine Kunstausstellung fungiert, ist eine glückliche Fügung. Im September 2006 wurde der Bunker von den Liegenschaftsfonds des Landes Berlin an Privatinvestoren verkauft. Zwei Jahre später entstanden auf dem Dach exklusive Loftwohnungen. Die neu gegründete museumsWERK Gmbh will den Bau in Zukunft als dauerhaftes Ausstellungsgebäude etablieren und erwies sich zur Freude des studentischen Kuratorenteams als äußerst offen und experimentierfreudig. Sie selbst seien überrascht, berichtet die Pressesprecherin Tina Gebler, dass am Ende eines Seminars solch ein Ergebnis zustande gekommen ist. Am Anfang stand schließlich eine Gruppe junger unerfahrener Kunstgeschichtsstudenten, die weder etwas von Fundraising noch von Pressearbeit verstanden. Sicher gab es Momente des Zweifels und der Unsicherheit. Nachdem man schnell die Rahmenbedingungen wie etwa das Thema „Endzeit“ einer Gruppenausstellung festgelegt hatte, ging es direkt in Galerien, auf Ausstellungen und in Ateliers. Die passenden Künstler und Kunstwerke mussten gefunden, präsentiert, diskutiert, verteidigt oder verworfen werden. Was aktuell in der Ausstellung zu sehen ist, ist das Ergebnis hitziger Diskussionen abseits der gewohnten Seminaratmosphäre.
Viele der Werke sind eigens für den Bunker angefertigt worden oder werden zum ersten Mal gezeigt. So thematisiert beispielsweise die Dresdener Künstlerin Tina Beifuss in ihrer Installation „Strickleiter verkehrt“ die bedrückende Ausweglosigkeit, die die konkrete Raumsituation provoziert. Daniel Rodes, an Bruce Naumann erinnerndem Neon-Schriftzug „off season“ verdankt die Schau schließlich ihren Namen. „Zum Glück“, so Tina Gebler, „erwiesen sich alle Seiten als sehr interessiert und kooperativ“. Die Schirmherrschaft des Tagesspiegel war sicher nicht unwichtig, um Sponsoren zu finden. Gelernt habe man unheimlich viel, da sind sich alle Seminarteilnehmer einig, und auch wenn man zeitweise von Stromkabeln träumte und Bunkerstaub hustete, sei es eine befriedigende Erfahrung, Gruppen von staunenden Besuchern durch die Mauern zu führen. Ob man mit der positiven Energie und dem Selbstbewusstsein direkt das nächste Projekt plane? „Warum nicht“, so Gebler, „schließlich wissen wir jetzt wie es geht! In einer kleineren Gruppe und nach etwas Erholung nach den stressigen letzten Wochen, wäre es durchaus denkbar.“ Man möchte es hoffen, denn dem Besucher eine aufregende Körper‑ und Geisteserfahrung geboten zu haben, können nicht viele hoch dotierte Ausstellungen von sich behaupten.
Die Ausstellung „now open for off season – Endzeiten in der Gegenwartskunst“ ist noch bis zum 22. August 2010 im Fichtebunker in Berlin zu sehen. Die Finissage findet am 22. August ab 19 Uhr statt. Weitere Informationen finden sich auf der Homepage zum Projekt.
Visuelle Eindrücke vom Bunker und der Ausstellung hält dieses Video bereit.