In einer schmalen Straße im Osten von Paris liegt, einigermaßen unscheinbar, die Galerie Thaddaeus Ropac. Am Empfangstisch vorbei kommt man im Erdgeschoss in einen abgedunkelten Raum, in dem vier Leinwände von der Decke hängen. Vor jeder Leinwand eine Bank, über jeder Bank ein Lautsprecher, aus dem eine nur für den jeweiligen Zuschauer hörbare Stimme das Geschehen auf der Leinwand kommentiert.
Im Dunkeln und von Leinwänden umgeben, könnte man meinen, in eine zeitgenössische Variation der Panoramen des 19. Jahrhunderts geraten zu sein. Aber man hat es hier doch nicht mit der Illusion einer vollständigen Welt zu tun. Statt von einer bemalten Leinwand hat man hier vier Filme von Harun Farocki („Parallele I-IV“) vor sich. Oder genauer: viermal Ausschnitte aus Videospielen und Computeranimationen von Landschaften, Wasser und Wolken.
Auf den ersten Blick scheint es, als habe Farocki sein Material so vorgefunden, wie er es mit nur sparsamen Kommentar versehen zeigt. Aber die Ausschnitte sind doch genau komponiert.
„Parallele I“ leistet, was im Film klassischerweise ein establishing shot macht. Die Welt der Handlung, sozusagen der Ort der Erzählung wird abgesteckt. Da Farocki aber keine Geschichte erzählen will, zeigt er lieber die virtuellen Welten in einem historischem Überblick. Links zeigt die Doppelprojektion einen Ausschnitt aus dem Rollenspiel „Ultima I“ (1981), als die Grafik kaum einen Anspruch auf Illusion erheben konnte. Das Meer ist eine bloße Abbreviatur aus Quadraten und Linien, die sich ruckartig bewegen und die Bäume sind grüne Flecken in der Landschaft. Der Kommentar spricht von symbolischen Formen, die die Welt des Spiels bilden. Der Spieler braucht Wohlwollen und Vorwissen, um in den symbolischen Form von blauen Klötzen das Meer und in den grünen Pixeln den Wald zu erkennen. Auf der rechten Hälfte der Leinwand ist eine überrealistische Welle, mit Lichtreflexen und fließenden Bewegungen. Nur der blaue Himmel wirkt etwas flach und das Wasser etwas zu opak, wie auf einem Gemälde von Courbet.
Wie in einem Bildatlas schreibt Farocki eine Geschichte der virtuellen Bilder und stößt immer wieder auch auf Darstellungsprobleme der Kunstgeschichte. Feuer, Rauch, Wolken, Bäume und Landschaften, alles zunächst noch in zweidimensionaler Klötzchengrafik von oben oder von der Seite gesehen, wird mit zunehmend besserer Technologie in den Rahmen von Perspektive eingespannt. Die Geschichte, die hier erzählt wird, fällt freilich sehr teleologisch aus. Aber die Entwicklung der digitalen Simulationen ist ja auch an Rechenleistung und Speicherplatz geknüpft. „Wie ein Kind, das eine Puppe auseinandernimmt, um der Illusion auf den Grund zu gehen“, so formuliert der Kommentar den Anspruch der Installation. Dem Interesse dieses Kindes folgt der Blick Farockis, wenn er in seiner Installation den Lücken und den Widersprüchen der simulierten Welten nachspürt.
„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, lautet Schillers Diktum. Darin enthalten ist das Versprechen von Freiheit – aber nur in einem begrenzten und abgesteckten Raum. „Parallel II“ zeigt die räumlichen Grenzen der simulierten Spielwelten, wenn Cowboys Klippen hinabstürzen, postapokalyptische Soldaten an den unsichtbaren Grenzen ihrer kleinen Welt scheitern oder Skater ins Nichts fallen. Wie Helden in einem Drama von Beckett sind die Helden ohne Wissen über die Welt hier in eine Welt geworfen, die sie nur mit Hilfe des Spielers wahrnehmen, erkunden und verstehen können. „Sie sind Homunculi, menschenähnliche Wesen, von Menschen erschaffen. Wer immer mit ihnen spielt, hat einen Anteil am Schöpferstolz“, sagt Farocki über die Spielfiguren, die sich bereitwillig vom Spieler dirigieren lassen.
Eine platte Kritik der virtuellen Simulation ist von Farocki freilich nicht zu erwarten. Mit „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ hat er schon einen Essayfilm über simulierte Parallelwelten gemacht, ohne sich auf eine vereinfachte Kritik der Warenwelten zurückzuziehen. So gibt Farocki in „Parallele I-IV“ auch vor, mit sezierendem Blick eine Typologie und Topologie der simulierten Welten zu versuchen, und zum Glück spart er das moralische Urteil aus.
Die Computerbilder lassen in ihrem cleanen Detailrealismus den fotografischen/filmischen Abdruck blass, grobkörnig und unspektakulär aussehen. Nicht von ungefähr erinnert die Installation an die Panoramen des 19. Jahrhunderts, in denen der Besucher sich für einen geringen Preis mit der Illusion ferner Welten umgeben konnte. Aber der entscheidende Unterschied ist, dass „Parallele I-IV“ keine Illusion zulässt. Der von einer Frauenstimme gesprochene Kommentar verhindert das Eintauchen in die gezeigte Welt, genauso wie die Ausschnitte eine Ordnung vermuten lassen. Während die Avantgardekunst seit der Moderne versucht, aus dem Bild auszusteigen, tut das Computerspiel genau das Gegenteil. Brüche werden kaschiert, Algorithmen versuchen Wellen und Wind nachzuahmen und das Licht auf den Oberflächen wird täuschend echt zurückgeworfen. Hier werden sich vielleicht keine Vögel niederlassen wie auf den Trauben Zeuxis‘, aber man lässt sich gerne von den glatten Oberflächen täuschen. Diese Bildwelten versuchen zu inkorporieren, was die Avantgarden längst über Bord geworfen haben: einen simplen Realismus, der so tut als wäre er das Fenster zu einer anderen Welt, das Höher-Schneller-Weiter technischer Innovation und das Versprechen des Eskapismus. Das sorgt freilich für Irritation: Lässt sich die Welt der digitalen Bilder noch als Schmuddelecke der Popkultur ignorieren?
So einfach ist es natürlich nicht, wie man ein Stockwerk höher sieht. Popkultur und digitale Bilder gehören längst zum Repertoire arrivierter Künstler. Robert Wilson befasst sich mit dem Lieblingspopstar der Gegenwartskunst: Lady Gaga. Der Raum wird nur von den zwölf Bildschirmen beleuchtet, die die Arbeit „Video Portraits of Lady Gaga“ bilden. Wilson, sonst eher als Choreograph bekannt, hat das Gesicht der Sängerin mithilfe von Computeranimation bearbeitet. Elf davon zeigen ihren Kopf leichenblass und mit Bartstoppeln als Haupt Johannes des Täufers in einer Schale. Im Zentrum der Serie steht Wilsons Variation auf Ingres‘ Gemälde Mademoiselle de la Rivière – wieder mit dem Gesicht von Lady Gaga. Man muss genau hinsehen, um die quälend langsamen Bewegungen zu erkennen: Lady Gaga als Mademoiselle Rivière hebt zitternd ihren Arm, dann ihren Blick, schließlich läuft ihr eine Träne über die Wange. Die leblose Darstellung und der stereotype Hintergrund wirken wie das Echo von Ingres‘ steifem Klassizismus, die langsame Bewegung wie das Gegenbild zur Videoclip-Ästhetik. So anachronistisch das re-enactment alter Museumskunst als Video auch scheint, entspricht Wilsons Arbeit doch einer Strategie, der Lady Gaga schon seit Beginn ihrer Karriere folgt (nachzulesen in der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Pop. Kultur und Kritik“) . Die Träne verspricht einerseits echte Emotion und Präsenz. Aber die Inszenierung ist derart überhöht, dass sie niemanden darüber täuschen kann, dass es eben nur eine Inszenierung ist. Ähnlich sieht es aus, wenn Wilson mit der Sängerin als transgender-Märtyrer eine Darstellung aus der italienischen Renaissance zitiert. Um die Grenze zwischen Pop- und Hochkultur hat sich Wilson im Jahr 2000 schon wenig gekümmert, als er eine Giorgio Armani-Retrospektive ins New Yorker Guggenheim-Museum brachte. Aber so skandalös kann der Grenzübertritt vor 14 Jahren nicht gewesen sein, schließlich sind Pop und Kunst seit fünf Jahrzehnten eng verknüpft. Und auch Wilsons Videoporträts in Paris fügen dem Popdiskurs nichts hinzu, vollziehen ihn aber mit ausgestelltem Pathos und echter Künstlichkeit nach.
Die Ausstellungen „Parallele“ von Harun Farocki und „Video Portraits of Lady Gaga“ von Robert Wilson sind noch bis zum 15. Februar 2014 in der Galerie Thaddaeus Ropac in Paris zu sehen.