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Realness ist anderswo. Clemens Meyers Poetikvorlesung in Frankfurt

Clemens_Meyer

Ein Teenager kauft auf dem Flohmarkt in Leipzig kurz nach der Wende ein paar alte VHS-Kassetten, darunter: John Carpenters “Assault on Precinct 13” und ein Softporno: “Die Stoßburg.” Dann kauft er Beate Zschäpe noch einen Stapel alter Comics ab. Nachts, nachdem er als Komparse bei Wagners Lohengrin auf der Bühne stand, findet er an der Straßenecke einen alten Fernseher und nimmt ihn mit, um sich die Kassetten anzusehen. Vielleicht ist der Teenager Clemens Meyer, jedenfalls sind diese Ereignisse für den Schriftsteller Rohstoff. Davon erzählt Meyer in der Frankfurter Poetikvorlesung, “Der Untergang der Äkschn GmbH.”

Der Textarbeiter Clemens Meyer wird gerne wegen seiner Authentizität gerühmt, zum Beispiel von Florian Kessler. Der schrieb Anfang 2014 einen Kommentar über  das Authentizitätsproblem der deutschen Gegenwartsprosa. Die Schreibschulen in Leipzig und Hildesheim bringen nichts hervor als biedere, schön geschriebene Prosa von Arztsöhnen und Professorentöchtern, so der Vorwurf. Die Jungautoren aus dem Bürgertum, ihre Nabelschau und ihre Versuche, sich auf dem Markt zu positionieren seien weit weg vom echten Leben. Oder anders gesagt: Das echte Leben spielt da, wo die Mittelschicht gerade nicht ist. Das kann das Feuilleton beweisen, wenn es beispielsweise auf dem neuesten Album des hinreichend kanonisierten Rappers Haftbefehl den echten Sound des Prekariats vermutet. Man sucht die Wirklichkeit  an den Orten, die von der bürgerlichen Mitte als Rand wahrgenommen werden. Clemens Meyer arbeitete nach dem Abitur als Bauarbeiter. Zum ersten Semesters an der Leipziger Schreibschule konnte Meyer nicht kommen, weil er wegen Autodiebstahl im Knast saß. Mehr realness geht kaum.

Nach dem Studium half ihm der Schriftstellerkollege Sten Nadolny einen Verleger für seinen Debütroman “Als wir träumten” zu finden. Darauf folgten weiter Romane, Stories und 2013 der Roman “Im Stein,” der es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreis brachte. Der Roman spielt im Rotlichtmilieu und in Schichten, die den Feuilletonlesern vielleicht fremd sind. Aber der Roman beginnt avantgardistisch im Präsens, erzählt wie Virginia Woolfs “Mrs Dalloway,” und es geht Meyer auch gar nicht um ein Milieuporträt, sondern: “Alle merken schnell, dass das ein Epos mit mythologischen Zügen ist,” so Meyer im Interview.

Zugegeben, die Authentizitätsdebatte ist alt. Wen kümmert es, dass Karl May nie in Nordamerika war? Eben. Deshalb redet Clemens Meyer in Frankfurt lieber über die Äkschn GmbH. Was das genau ist, verrät er aber nicht. Aber es gibt eine Menge Vermutungen, wer Mitglied der Gesellschaft sein könnte. Jean Genet, Juri Gagarin, Perry Rhodan und die norwegische Popband A-ha. Die Äkschn GmbH liebt Abkürzungen und Clemens Meyer auch: Adolf Hitler, abgekürzt A.H., wurde auf Betreiben der Popband A-ha der Eintritt in die Äkschn GmbH verwehrt. NSU und Beate Zschäpe in ihrem Käfig aus Licht sind eine unangenehme Präsenz in diesem Raum aus Pop, BRD und DDR-Folklore und Literatur. Alles kreist um die Stadt L, das ist Leipzig, und um die Jugend des Autors.

Also kein Sozialkitsch, auch nicht über Hartz IV-Empfänger oder Sexarbeiterinnen. “Die Literatur kennt keine Milieus. Die ganze Welt ist doch ein Rohstoff,” sagte Meyer in einem Interview. Jörg Fauser hat seinen autobiographischen Roman “Rohstoff” genannt und immer wieder mit Underground und Halbwelt kokettiert. Aber Fauser ist nur eine Referenz unter vielen. In der Poetikvorlesung verwebt Meyer feuilletonfernes Popwissen zu einer Story, die manchmal fast autobiografisch klingt, meistens aber nicht. Er erzählt von einer Schießerei im Polizeimuseum Offenbach, angelehnt an John Carpenters “Assault on Precinct 13.” Die Hauptfigur ist ein Wiesbadener Tatort-Kommissar mit einer Kugel im Rücken, auch er in der Äkschn-GmbH. Italowestern-Schauspieler Franco Nero, der sich in Offenbach zur Ruhe gesetzt hat, ist auch dabei. Nochmal die Ferne zum Bildungsbürgertum: Am Ende dreht Meyer Heino auf. “Karamba, Karacho, ein Whiskey,” und dazu steigt er wie Dieter Thomas Heck winkend die Showtreppe hinauf. “Und alles ist wieder hin,” singt Heino.

Weitere Termine der Vorlesung: 16., 23., 30. Juni und 7. Juli. Am 8. Juli gibt es noch eine Abschlusslesung im Literaturhaus Frankfurt. Außerdem wird die Vorlesung von einer Ausstellung im Fenster zur Stadt begleitet.

Titelfoto: © Enno Seifried

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