Michel ist 15, und er möchte mit Sylvie tanzen. Aber Sylvie tanzt lieber mit Patrice. Was klingt wie eine Story aus „La Boum„, ist eine Anekdote, die der Schriftsteller Michel Houellebecq in seinem Buch „Rester vivant“ von 1997 erzählt. Das Erlebnis ist in Wirklichkeit eine Epiphanie für den jungen Michel. Denn in der Jugenddisco erlebt er zum ersten Mal, dass Schönheit und Leid ganz nah beieinander liegen. Damit benutzt Houellebecq Wörter, die man kaum ohne Scham ausspricht, und erzählt einen Künstlermythos, den man für längst überholt hielt: Wer leidet, hat das Wichtigste, das man als Dichter braucht.
„Rester vivant“, am Leben bleiben, heißt auch die Ausstellung, die Houellebecq im Palais de Tokyo gemacht hat. Man könnte glauben, der Schriftsteller hätte sich in seiner Ausstellung einen Scherz erlaubt. Als hätte er sich einen Künstler ausgedacht, der fotografiert, Installationen macht und damit in eines der wichtigsten Häuser für Gegenwartskunst in Europa kommt. Eine Persiflage auf den Kunstbetrieb, wie sein Roman „Karte und Gebiet“.
Für Unwohlsein sorgt erst einmal die Ausstellungsarchitektur. Die Wände sind in einem Dunkelgrau gestrichen, das wenig mit den bunt-anarchischen Wohlfühlausstellungen zu tun hat, die das Pariser Haus sonst zeigt. Das ist natürlich Kalkül. In den sterilen Räumen, die an Wartesäle erinnern, stehen Plastikschalenstühle. An den Wänden: Fotografien von einem Europa, das so vertraut scheint, obwohl es schon bald der Vergangenheit angehören könnte. Orte wie Erinnerungen an Frankreichurlaube in den 1990ern. Houellebecqs Bilder zeigen die Durchgangsräume der Schengen-Zone, Mautstationen, ein Einkaufszentrum in Calais. Dort stehen auf dem Parkplatz riesige Buchstaben aus Beton, die das Wort Europa bilden. Das Foto hat er Mitte der 1990er gemacht, erklärt Houellebecq. Eins hat es mit den anderen Bildern gemeinsam: Es ist menschenleer. Ein anderes Foto zeigt eine Wüstenlandschaft, in der Bildmitte der Schriftzug “Nous habitons l’absence”. Der Autor sagt im Interview, er träume ganz selten nur von Menschen. Meistens von Landschaften.
Und doch sind da Spuren. Chemische Elemente, aus denen der Mensch besteht (die Idee hatte Alicja Kwade übrigens auch schon) stehen auf einem Podest, die entsprechenden Erklärungen hängen an der Wand (schwarz). Es gibt einen Schrein aus Coladosen, mit einem Schädel, der den Namen des Autors trägt. Geht es hier um einen traurigen alten Mann, der seinen eigenen Tod vorbereitet?
Schwierig, hier nicht die Person Michel Houellebecq, seine Romanfiguren, vor allem den Künstler Jed Martin aus “Karte und Gebiet”, im Hinterkopf zu haben. Denn die Themen sind die gleichen wie in den Romanen. Linderung gibt es auf Zeit in den künstlichen Paradiesen des Pauschalurlaubs. Denen ist dann gleich noch ein Raum gewidmet.
Einen heimlichen Star hat die Schau übrigens: Houellebecqs Corgie Clément, vor einigen Jahren verstorben. In einem Saal, der ganz Clément gewidmet ist, gibt es Fotos von Houellebecq mit Hund, unzählige Aquarelle seiner Ex-Frau Marie-Pierre. Sein Freund Iggy Pop hat einen Song beigesteuert. Und einen Tisch auf dem alle Spielzeuge des Corgies liegen. Denn der will eigentlich nur spielen. Eins hat der Schriftsteller von Clément gelernt: “Ein Hund kann jeden Tag das Gleiche tun und daran immer wieder Freude empfinden. Das ist fast das Geheimnis des Glücks”, sagte er in einem Interview. Wir müssen uns Michel Houellebecq als einen fast glücklichen Menschen vorstellen.
Titelbild: Michel Houellebecq, Irlande 1, Courtesy der Künstler und Air de Paris, Paris.