Kritik
Schreibe einen Kommentar

Gute Bücher, schlechte Bücher 2016

Wenn alle nur immerzu über die besten Fotobücher des Jahres reden, kann man derweil durch Buchhandlungen schlendern und den schlechten Fotobüchern einen Moment Aufmerksamkeit schenken. Das hat Anika für das art Magazin getan, der Text kann hier nachgelesen werden. In der Hauptrolle, Michael Klein, Buchhändler im Haus der Photographie in Hamburg. „Schlechte Bücher gibt es ja immer mehr als gute“, sagte Michael und zeigte mir Fotobücher über Drohnenfotografie, über im öffentlichen Raum pinkelnde Frauen und ein Buch von Steve McCurry, das kaum weniger sexy hätte gestaltet werden können.

Jetzt aber schnell zu den erfreulicheren Dingen im Leben, nämlich: gute Bücher, die 2016 wichtig waren oder einfach nur gut sind.

Stillleben BRD von Christian Werner

Ein bisschen Wolfgang Tillmans, ein bisschen Juergen Teller: Da ist jede Seite schön, wenn man denn die Ästhetik mag, das Blitzlicht auf den Dingen, den Gelbstich einiger Bilder, die Komposition, die vorgibt, keine zu sein. Nach dem Tod des Großvaters eines alten Schulfreundes war der Fotograf Christian Werner im Dezember 2014 noch einen Tag mit seiner Kamera in dem Haus in Delbrück, kurz bevor es entrümpelt und neu vermietet wurde. Was er dort vorfand war deutsche Gemütlichkeit, die im Blick zurück zu einem eigentümlichen Stillleben der Bundesrepublik wird.

Ein Bild zeigt Dürers betende Hände als Bronze-Relief neben zwei Kruzifixen. Darunter hängt das Hochzeitsfoto des Brautpaares B., das Christian Werner angeschnitten zeigt. Nur die Köpfe des Ehepaares, der Blick aus einer anderen Zeit, ragen in sein Bild. Und plötzlich weiß man, wem all diese Gegenstände gehörten, wer das Haus bewohnte und wer sich mit all dem zufrieden gab, was zwar längt nicht mehr en vogue war, aber was sich eben im Laufe des Lebens ansammelte.

© Christian Werner / Kerber Verlag

Die Rezension in voller Länge findet sich hier online beim art Magazin – von Anika Meier.

Babe herausgegeben von Petra Collins

Das Buch habe eine Dringlichkeit, ein Anliegen, schreibt Tavi Gavinson, US-amerikanische Mode-Bloggerin und Gründerin von Rookie, in ihrem Vorwort. Es will Künstlerinnen in einer von Männern dominierten Kunstwelt sichtbar machen, zeigen soll es, dass junge Frauen in der Kunst – ob vor oder hinter der Kamera – nicht dem von Werbung, Mode und Magazinen transportierten Schönheitsideal entsprechen wollen. Die Herausgeberin des Buchs, die 22-jährige kanadische Fotografin Petra Collins, ist sich sicher, dass die darin versammelten Frauen die Kraft haben, die Welt zu verändern. TV, Filme, Magazine und Musik haben bei ihr selbst den Eindruck hinterlassen, Mädchen und junge Frauen müssten möglichst perfekt aussehen, ja, das Aussehen sei am Wichtigsten und die Anerkennung des männlichen Geschlechts. Aber es muss doch eigentlich auch anders gehen. Wie? Das will Petra Collins unter dem Titel Babe zeigen, indem der Begriff mit Bildern fernab der Idealisierung durch Photoshop neu definiert wird.

Angefangen beim Titel Babe, der einen Ohrwurm von Take That eher versehentlich heraufbeschwört und den Gedanken an ein Schweinchen wohl auch nicht aus dem Zauberhut der Assoziationen hervorgaloppieren lassen möchte, gefällt so gut wie alles. Die Fotos von Smartphonen in den Händen junger Mädchen, die Armbänder mit der Aufschrift „Pussy“ und „Whatever“ tragen und die beim Versuch mit der Welt zu kommunizieren scheitern. Immer wieder verpassen sie den Anruf des Teilnehmers „world“. Weltschmerz pretty in pink.

© Petra Collins

Die Rezension in voller Länge findet sich hier online beim art Magazin – von Anika Meier. Einen Text über die Früchte des Feminismus in den sozialen Medien gibt es hier – von Anika Meier.

The Age of Earthquakes. A Guide to the Extreme Present von Shumon Basar, Douglas Coupland und Hans Ulrich Obrist

Die direkten Vorfahren von The Age of Earthquakes stammen aus vordigitaler Zeit. Denn 1967 hat der Medientheoretiker Marshall McLuhan mit dem Grafiker Quentin Fiore das Buch The Medium is the Massage herausgebracht. Der Kalauer im Titel spielt auf McLuhans oft zitierten Satz vom Medium als message an. McLuhans Buch war Medientheorie für Fernsehzuschauer aufbereitet. Auch The Age of Earthquakes strapaziert die Aufmerksamkeitsspanne der durchschnittlichen Internetnutzer nicht allzu sehr. Selten sind die Texte länger als ein Tweet. Denn: “The natural human attention span is the length of a Beatles song”, aber eher deutlich kürzer. Die Bilder sind von den Stars der Gegenwartskunst. Trevor Paglen ist mit seinen Lanschaftsaufnahmen mit Drohnen vertreten, Hito Steyerl ist dabei, Douglas Coupland persönlich hat ein paar Fotos und Collagen beigesteuert. Außerdem sind ein paar abfotografierte Objekte von Katja Novistkova dabei und zwei Selfies von Amalia Ulman. Die Auswahl der Künstler ist schlüssig, lautet der Untertitel des Buchs doch: A Guide to the Extreme Present.

Das Internet hat irgendwas mit unseren Gehirnen angestellt. Und von dort führt der Weg direkt zu den titelgebenden Erdbeben. Gut, ganz so direkt ist Weg nicht. Denn, so lernen die Leser ganz am Anfang, zehn Prozent der weltweiten Energieproduktion werden für die digitale Wirtschaft aufgewendet. Der Datenverkehr verbraucht damit mehr Energie als Flugverkehr, Tendenz steigend. Dadurch schmelzen die Polkappen, der Druck auf die Erdkruste verringert sich. Daher die Erdbeben. Die These sollte vielleicht eher lauten: Das Internet hat etwas mit allem angestellt. Und so ist es bei The Age of Earthquakes immer nur ein kleiner Schritt vom ganz Kleinen zum ganz Großen: vom individuellen Bewusstsein zum Weltklima.

© Penguin UK

 Die Rezension in voller Länge findet sich hier online beim art Magazin – von Philipp Hindahl.

I Hate the Internet. A useful novel against men, money, and the filth of instagram von Jarett Kobek

In der U-Bahn fällt man mit dem Roman von Jarett Kobek auf jeden Fall auf. In gelben Buchstaben steht auf dem roten Cover „i hate the internet“ – und je nachdem, wie man sitzt und das Buch hält, muss das Gegenüber den Kopf ein bisschen drehen und den Oberkörper nach vorne beugen. Ist der Titel endlich entziffert, folgt meist ein verstehendes Lächeln. Mitgefühl, Trost, Zuspruch, ja, genau, ich fühle mich so überfordert wie Du von diesem Internet, es nervt hart, will dieses Lächeln sagen. Der Autor jedenfalls ist hart genervt von diesem Internet und schimpft und flucht ohne Unterlass. Das ist lustig zu lesen, sofern man denn rants mag. „Kobek ist gewissermaßen der unterhaltsamste Rant gelungen, den das Internet bislang außerhalb des Internets hervorgebracht hat“, so David Hugendick auf ZEIT Online.

Ein wenig dick aufgetragen ist der Untertitel, nach dem „filth of instagram“ muss man lange suchen. Instagram klingt nur etwas massentauglicher als Twitter. Denn eigentlich geht es um Twitter und Facebook, um die Meinungsplattformen also, und darum, dass die Comiczeichnerin Adenaline einmal bei einem halb-öffentlichen Auftritt nicht die richtigen Worte gewählt hatte und mitten in einen Shitstorm hinein plumpste, der wie ein Tornado über ihre Existenz hinwegfegte. Adenaline versucht sich freizuschwimmen und reinzuwaschen, während der Autor über Google, George Bush, ja, eigentlich über alles und jeden schimpft, der ihm so einfällt.

Sein rant über Instagram liest sich so:

Mostly, Instagram’s users uploaded photographs of things on which they’d either spent money or wished to spend money on. It was an infinite sexless orgy of cars, guns, food, clothes, dogs, cats, yoga, bikinis, money clips, works of art, breast implants, buttock implants, dream vacations, tattoos, vinyl records, cellular phones, footwear, laptop computers, country estates in England, airplanes, piercings, exotic pets, mid-century modern homes, bongs, crockery, bathroom mirrors, cameras, mojitos and other delicious alcoholic beverages, lip augmentation, handbags, watches, spiral staircases, suicidal ideation, caffeinated drinks purchased at Starbucks, motorcycles, protein supplements, suntan lotion, fake moustaches, novelty mugs, children’s toys, sunglasses, guitars, Sno-cone machines, vape pens, scooters, crystal pendants and imported Japanese junk food.
Uncoincidentally, Instagram was also the first social media platform to which the only sane reaction was hate.

Das Buch derweil kann man nur lieben.

Eurotrash herausgegeben von Svenja Bromberg, Birthe Mühlhof, Danilo Scholz

Großbritannien hat im Sommer für den EU-Austritt votiert. Eine Geschichte, die man danach immer wieder gehört hat: Wir sind schlafen gegangen, und am nächsten Morgen ist passiert, womit niemand gerechnet hat. Womit man aber immer rechnen kann: dass der Merve-Verlag die Nase im Wind hat. Als hätten die Berliner es geahnt, ist kurz darauf Eurotrash erschienen, ein Band mit Texten von Michel Houellebecq, Alain Badiou und Paul B. Preciado. Das Buch ist so etwas wie eine Standortbestimmung, ausgehend von dem russich-französischem Philosophen Alexandre Kojève. Der ist unter Philosophen als Hegel-Exeget bekannt, der breiten Masse aber eher überhaupt nicht. Dabei hat er nach dem zweiten Weltkrieg im französischen Wirtschaftsministerium Karriere gemacht und die Idee einer europäischen Währungsunion entwickelt. Das nannte er wenig bescheiden: Notiz für die Menschheit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am Ende des Jahres 2016 liest sich das alles nicht ohne Melancholie.

The Lonely City von Olivia Laing

Eine althergebrachte Kritikerregel lautet: Es gehört sich nicht, ich zu sagen. Und in den meisten Fällen interessieren sich die Leser zu Recht nicht für die inneren Regungen der Feuilletonisten. Die Frieze-Kolumnistin und Kunstkritikerin Olivia Laing hingegen benutzt Bilder und Künstlerbiographien, um die Geschichte ihrer eigenen Einsamkeit zu erzählen. Vielleicht sind die Künstler und Bilder, über die sie schreibt eine Ausweichstrategie, um nicht von sich selbst zu erzählen. Daraus ergibt sich jedenfalls eine Taxonomie der Einsamkeit: Edward Hoppers Nachtgestalten, Andy Warhol, umgeben von Superstars in seiner Factory, der Outsider-Künstler Henry Darger allein mit unzähligen Gemälden in seinem Apartment. Die Stadt von der Laing erzählt ist New York City, aber eigentlich: “Loneliness, I began to realise, was a populated place: a city in itself”.

Known and Strange Things von Teju Cole

Was muss man tun, um als der wichtigste Intellektuelle der USA gehandelt zu werden? Teju Cole zumindest tut so, als wüsste er das nicht. Stattdessen behauptet er, dass die wirklich einflussreiche Sphäre das Fernsehen, Filme und Musik seien. Nach zwei Romanen (Every Day is for the Thief und Open City) ist 2016 ein Band mit Aufsätzen erschienen: Known and Strange Things. Es geht um Literatur, ums Reisen und ums Fremdsein. Es geht darum, was Schwarzsein in den USA heute bedeutet, es geht um James Baldwin ebenso wie um Childish Gambino. Cole ist übrigens auch Kunsthistoriker, Fotograf und Kritiker, deshalb schreibt er auch über die Bilder, die uns tagtäglich umgeben. Auf YouTube ist der Weg nicht weit von einem Interview mit Jacques Derrida zu Aufnahmen des letzten lebenden Tasmanischen Beutelwolfs, und in Coles Essays ebenfalls nicht.


Kurz bevor das Buch erschienen ist, haben wir uns mit Teju Cole für das Monopol Magazin unterhalten. Hier geht es zum Interview in voller Länge. Einer der Fotografen, über die Teju Cole spricht und über die er für das New York Times Magazine geschrieben hat, ist Luigi Ghiri. Im Sommer ist bei MACK auch von ihm eine Essaysammlung erschienen.

Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust von Wolfgang Ullrich

Der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich ist ein höchst produktiver Autor. Wenige verstehen es wie er, Begriffe zu prägen und Debatten zu besetzen. 2016 hat er den Begriff Siegerkunst auf knapp 140 Seiten definiert. Künstler, um genau zu sein, die Siegerkünstler, wie Ullrich sie nennt, wollen heute nicht mehr unbedingt ins Museum mit ihren Werken, vielmehr wollen sie aus dem Museum wieder heraus, denn: „Was im Museum ist, darf keine Ware mehr sein, weckt keine spekulativen Phantasien, hat keinen obszönen Charakter, ist von vielen Rankings und starken Emotionen von vornherein ausgeschlossen.“ Was zählt ist der Erfolg, der sich in einem absurd hohen Preis messen lässt, den Sammler bezahlen, die für Ullrich auch Sieger sind. „Siegerkunst ist also Kunst von Siegern für Sieger.“ Wer auch 2017 auf Vernissagen mitreden möchte, sollte das Buch zumindest überflogen haben.

Useful Photography #13 von Erik Kessels

Ein Buch voller Penis-Selfies, gesammelt von Erik Kessels. Schwanzvergleich, mehr muss man dazu nicht sagen, blättern genügt.

P.S. Mehr Bilder gibt es hier.

Fuck You, 2016 von Bob A.N. Grypants 

„A look back on the worst year ever“, heißt es im Untertitel. Ob das überhaupt stimmt, möchte der Autor herausfinden. Es geht dann auch um all das, was 2016 schlimm war: Brexit, Trump, Trump und Trump, Trumps Haare, Postfaktizität, Mannequin Challenge usf. Und um all die Menschen, die uns 2016 verlassen haben, obwohl wir sie hier noch sehr dringend gebraucht hätten. Der Autor selbst empfiehlt: Zum Ende des Jahres lesen und ganz schnell entsorgen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *