Essay, Wissenschaftliche Aufsätze
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Bildwerk und Ereignis. Eine performanztheoretische Betrachtung der mittelalterlichen Palmeselfigur im Kontext der Prozession

Bilder und Objekte können auf vielfältigste Weise als Vermittler in Kommunikationsprozesse eingebunden werden. Bereits ein Blick in die Nachrichten, eine beliebige Tageszeitung oder eine Seite im Internet genügt, um sich ein weites Spektrum an Möglichkeiten der Bildverwendung zu vergegenwärtigen. Zweifellos hat die heutige Zeit spezifische, den gegenwärtigen Anforderungen gemäße Verwendungsformen für Bilder entwickelt, doch haben sich im Laufe der Jahrhunderte der Umgang mit dem Bild und das Bildverständnis im gleichen Maß verändert, wie das Selbst- und Weltbild des Menschen. Als Folge dieses Wandels sind im Laufe der Zeit bestimmte Bildtypen außer Anwendung gekommen und damit die mit ihrer Inszenierung verbundenen Wirkungsmechanismen in Vergessenheit geraten.

Wie in kaum einer anderen historischen Epoche wurden im Mittelalter Bilder und Objekte in facettenreicher und vielschichtiger Weise als integrale Bestandteile in die Kommunikation und in symbolische Handlungsabläufe eingebunden. Deren Anlass waren oftmals religiöse Zeremonien, was sich anhand liturgischer Instrumente sowie bildreicher Altarretabel nachweisen lässt und in besonderer Weise mit Objekten, denen eine außergewöhnliche Kraft oder gar ein eigenständiges Wirken zugeschrieben wurde. Das gilt für viele Reliquienstatuen, aber ebenso für hölzerne Bildwerke, die als scheinbar selbstständig handelnde Wesen auf dynamische Weise in liturgische Abläufe eingebunden wurden. Ein Beispiel für die Gattung des ‚handelnden Bildwerks‘ sind die so genannten Palmeselfiguren, die Gegenstand dieser Betrachtung sind. Während der Palmsonntagsprozession erfuhren diese Bildwerke eine besondere Verehrung, die sich der These zufolge, durch den Kontext der Inszenierung erklären lässt. Der Figurentypus des Palmesels wird in diesem Text hinsichtlich seiner Einbettung in den Gesamtzusammenhang der Prozession betrachtet, wobei sich der Fokus insbesondere auf die performativen Züge richtet, die der Wechselbeziehung zwischen den Prozessionsteilnehmern und dem religiösen Kunstwerk inhärent sind. Somit stehen interaktive und semiotische Vorgänge im Mittelpunkt, die sowohl die Relation von Subjekt und Objekt, als auch die Ebene von Raum und Zeitlichkeit erfassen. Hierbei soll abschließend der Versuch unternommen werden, Walter Benjamins Begriff der ‚Aura‘ für die analysierten Vorgänge fruchtbar zu machen. Als Basis und Ausgangspunkt dieser Untersuchung dient neben einem historischen Exkurs zur Form und Genese der Palmprozession der aktuelle Forschungsstand zur Gattung des handelnden Bildwerks.

‚Handelnde Bildwerke‘ in ihrer heutigen Wahrnehmung und in der Forschung

In zahlreichen Museen trifft man auf so genannte Palmesel, hölzerne Figurengruppen, die Christus auf einem Esel reitend darstellen. Diese beinahe lebensgroßen geschnitzten Skulpturen waren in der Regel polychrom gefasst und wurden auf einer mit Rädern versehenen Basis fixiert (Abb.1). Durch diese Vorkehrung konnten sie mit Hilfe von Seilen in Bewegung gesetzt und im Rahmen der Feierlichkeiten am Palmsonntag in der Prozession mitgeführt werden, um an den Einzug Christi in Jerusalem zu erinnern. Die Darstellungsweise erfährt über die Jahrhunderte kaum Veränderung: Jesus ist stets mit einem langen, mitunter prächtigen Gewand bekleidet und trägt in einigen Fällen eine Krone, wodurch seine Rolle als Messiaskönig hervorgehoben wird. Seine rechte Hand hat er stets zum Segensgestus erhoben, während seine Linke ein Evangelienbuch oder die Zügel hält. Je nach Fertigkeit des Bildschnitzers wird das Reittier entweder stehend dargestellt oder durch ein Schrittmotiv dynamisiert. Dieser Bewegungseindruck kann zusätzlich durch die Sitzhaltung und Körperneigung des Reitenden sowie die plastische Ausgestaltung der Gewandschwünge verstärkt werden, wie es etwa bei dem um 1520 entstandenen Palmchristus des Berliner Bodemuseums der Fall ist (Abb.2).

Abb 1.: Die Figuren konnten mithilfe von Seilen in Bewegung gesetzt werden. Palmesel, Fichtenholz, Tannenholz, Buchenholz, um 1055, Schweizer Landesmuseum Zürich..

Abb 1.: Die Figuren konnten mit Hilfe von Seilen in Bewegung gesetzt werden. (Palmesel, Fichtenholz, Tannenholz, Buchenholz, um 1055, Schweizer Landesmuseum Zürich.)

Obwohl diese Figuren, der Anzahl ihrer überlieferten Exemplare nach zu urteilen, relativ weit verbreitet waren, hat die kunsthistorische Forschung sie lange Zeit keiner eingehenden Untersuchung gewürdigt. Eingestuft als volkstümliche Prozessionsskulpturen, wurden sie ungeachtet ihrer mitunter bemerkenswerten bildnerischen Qualität aus dem Bereich der ‚hohen Kunst‘ ausgegrenzt. So ist es bezeichnend, dass eine der ersten Veröffentlichungen zu diesem Thema nicht der Disziplin der Kunstgeschichte entstammt, sondern aus dem Blickwinkel der Volkskunde verfasst wurde.1 Die Tatsache, dass mit Hans Multscher einer der wichtigsten Bildhauer seiner Zeit in den 1460er Jahren mit der Ausführung eines Palmesels für das Ulmer Münster betraut wurde und ein weiterer Palmesel aus der Schule Tilman Riemenschneiders erhalten ist, hält indes deutlich vor Augen, dass es sich bei den mittelalterlichen und neuzeitlichen Palmeseln keineswegs nur um ein ländliches oder gar naives Requisit des Volksglaubens gehandelt hat. Vielmehr müssen die Palmesel als Figuren betrachtet werden, die ihren Platz in einer über Jahrhunderte hinweg verbreiteten Frömmigkeits- und Liturgiepraxis hatten, welche im Zuge der Aufklärung verschwand und uns heute fremd geworden ist. Es handelt sich bei den Palmeselfiguren um Vertreter der Skulpturengattung der ‚handelnden Bildwerke‘, eines Figurentyps, der durch seine spezifische Verwendungsart charakterisiert wird.

Erst die Erschließung dieses im Mittelalter gebräuchlichen Figurentypus durch die jüngere Kunstgeschichte, lässt Bildwerke wie die Palmesel in einem neuen Licht erscheinen. Besonders verdienstvoll sind in diesem Zusammenhang die Forschungen von Johannes Tripps, der mit seiner Habilitationsschrift Das handelnde Bildwerk in der Gotik2 die bisher umfangreichste und grundlegende Publikation zu dieser oftmals übersehenen Gattung der mittelalterlichen Skulptur vorgelegt hat.

Unter die Kategorie der ‚handelnden Bildwerke‘ lassen sich jene Werke der mittelalterlichen Kunst subsumieren, deren ursprüngliche Funktion es war, liturgische Inhalte zu verbildlichen, indem sie – in religiöse Handlungen eingebunden – scheinbar eigenständig in Aktion traten. Zu diesem Zweck wurden Skulpturen oftmals mit beweglichen Gliedern ausgestattet oder durch Mechanismen in Bewegung versetzt. Die Distanz mehrerer Jahrhunderte und der sukzessive Wandel in der liturgischen Bildverwendung sowie dem allgemeinen Bildverständnis erschwert jedoch in vielen Fällen die Betrachtung und das Verständnis dieser Kunstwerke, deren Verwendung von einem sehr dynamischen Umgang mit Bildern zeugt.

In ihrer heutigen Erscheinung lassen die meisten hoch- oder spätgotischen Pfarrkirchen, Münster oder Kathedralen nur noch schwer erahnen, dass ihre einzelnen architektonischen Teile funktional klar definierte Erlebnisräume waren, deren feste Ausstattung ihren eigentlichen Sinn in Symbiose mit beweglichen Figuren offenbart.3 Nicht allein die Kirchengebäude durchlebten infolge von Umbauten und Beschädigungen im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Wandlungen, auch die darin befindlichen Kunstwerke wurden nach Bedarf umfunktioniert und den jeweiligen liturgischen Anforderungen angepasst. Die Sekundärverwendung dieser Bildwerke verschweigt dabei oftmals die ursprüngliche zeremonielle Verwendungsform. So wurden etwa vom Kreuz abnehmbare Christusfiguren mit beweglichen Armen und Beinen, die während der Karfreitagsfeierlichkeiten zur Inszenierung der Grablegung Verwendung fanden, in vielen Fällen dauerhaft am Kreuz fixiert und ihre ursprüngliche Funktion durch Kaschierung der Gelenkstellen unkenntlich gemacht.4 Trifft man heute in einem Museum oder einer Kirche auf mittelalterliche Kunstobjekte, lässt sich in vielen Fällen die ursprüngliche Funktion und Verwendung als handelndes Bildwerk aus der bloßen Anschauung kaum mehr ableiten. So verhält es sich beispielsweise mit Engelsleuchtern oder Pyxiden, die man während der Messe zum Altar herabschweben ließ. Ebenso konnten Marien- und Christusfiguren zum Höhepunkt der Feierlichkeiten zu Assumptio Mariae beziehungsweise Ascensio Domini ins Gewölbe des Gotteshauses auffahren.5

Unter den vielfältigen Formen handelnder Bildwerke ist der Palmesel neben den Pfingsttauben eines der wenigen Beispiele, die uns in ihrer Funktion als ‚handelndes Bildwerk‘ bis heute gegenwärtig geblieben sind. Denn weder die Reformation noch das anschließende Tridentinum konnten ihm etwas anhaben, ehe der rationalistische Geist der Aufklärung seiner Verwendung weitgehend ein Ende setzte.6

Prozession und Bildwerk

Richtet man das Augenmerk auf die Entstehungszeit, der bis heute erhalten gebliebenen Palmesel, so wird man eines erstaunlich langen, epochenüberspannenden Zeitraumes gewahr. Während das früheste erhaltene Exemplar – der Palmesel von Steinen, der sich heute in Zürich befindet (Abb. 1) – aus der Mitte des 11. Jahrhunderts stammt, lassen sich die spätesten Palmeselgruppen noch in der Zeit um 1800 finden. Die Verbreitung dieses Skulpturentypus erstreckte sich über den gesamten deutschen Sprachraum und strahlte in dessen angrenzende Regionen aus. Palmesel lassen sich von Norddeutschland bis nach Verona und vom Elsass bis nach Schlesien finden. Der Großteil der überlieferten Exemplare entstammt dem süddeutschen Raum, dem vermutlichen Kern- und Ursprungsgebiet des Palmeselgebrauchs. Diese relativ große geografische Verbreitung und der beachtliche überbrückte Zeitraum zeugen nicht zuletzt von der großen Bedeutung, die die Palmsonntagsfeier als Auftakt der Osterzeit im mittelalterlichen Kirchenjahr hatte.7

Palmsonntagsprozessionen haben in der christlichen Welt eine lange Tradition; ein Blick in die Quellen offenbart, dass die Geschichte dieser Prozession bis weit in die Zeit des frühen Christentums zurückreicht. Der erste Bericht über ein solches Geschehen stammt von der Jerusalempilgerin Egeria (auch Aetheria), die aus Aquitanien im äußersten Westen des Römischen Reiches aufgebrochen ist, um die biblischen Stätten im Orient und im Heiligen Land zu besuchen. Ihre Pilgerfahrt lässt sich auf die Zeit zwischen 381-384 datieren. In ihrem Itinerarium widmet sie der Schilderung der Gottesdienste, die in Jerusalem während der Großen Woche abgehalten wurden, besondere Aufmerksamkeit. Dem Bericht zufolge begaben sich die Gläubigen um die siebte Stunde zum Beten auf den Ölberg, dessen Spitze man nach Ablauf zweier Stunden bestieg, bevor sich die Prozession schließlich zur elften Stunde unter lobpreisenden Gesängen, von der Höhe des Ölbergs bis zur Grabeskirche in die Stadt bewegte.8 Hierbei wurden die durch die Bibel vorgegebenen Tageszeiten und Orte möglichst genau auf die liturgischen Zeiten und Vollzüge übertragen.9 Die zahlreichen Menschen, die den Zug begleiteten, trugen in Anlehnung an die biblischen Schilderungen der Ankunft Christi in Jerusalem (Mt 21,1-11; Mk 11,1-10; Lk 19,29-40; Joh 12,12-16) Palmwedel und Olivenzweige.10 Von einem mitgeführten Heiligtum oder einem Prozessionsbild erfahren wir im Bericht der Egeria nichts. Anstelle dessen übernimmt offenbar der Bischof, der inmitten des Volkes nach Jerusalem geleitet wird, die Rolle des feierlich einziehenden Heilands.11 Neben dem Bischof steht somit die Authentizität des Ortes – die Stadt selbst – im Mittelpunkt des Geschehens.

Abb. 2:Eindruck dynamischer Bewegung durch Sitzhaltung und Gewandschwünge: Palmesel, Lindenholz, um 1520–1530, Bode-Museum, Berlin.

Abb. 2: Eindruck dynamischer Bewegung durch Sitzhaltung und Gewandschwünge. (Palmesel, Lindenholz, um 1520–1530, Bode-Museum, Berlin.)

Ausgehend von Jerusalem, dem wichtigsten Glaubens- und Pilgerzentrum des christlichen Altertums strahlten die Gottesdienstgewohnheiten – durch Berichte, wie dem hier angeführten – weit aus und wurden in Ost und West übernommen. Prozessionen wie diese hat es in Frankenreich mit Sicherheit bereits im 8. Jahrhundert gegeben.12

Für unsere Perspektive auf den Gebrauch von Palmeseln im deutschen Raum ist die zwischen 982 und 992 entstandene Vita des heiligen Bischofs Ulrich von Augsburg13 von besonderer Bedeutung, da in ihr die früheste Nennung einer Palmeselfigur zu finden ist. Während sich etwa Josef Anselm Adelmann dafür aussprach, die in der Quelle genannte „effigies sedentis super asinum“ als Bild in Form einer Ikone zu deuten, ist es Johannes Tripps gelungen anhand von Quellenvergleichen zu belegen, dass man im Mittelalter sehr wohl in der Lage gewesen ist, zwischen tabula als Bild und effigie als plastischem Bildwerk begrifflich zu differenzieren. Tripps zufolge muss es sich bei dem genannten Kunstwerk somit tatsächlich bereits um einen hölzernen Palmesel gehandelt haben.14 Damit gehört der Palmesel zu den ältesten plastischen Bildwerken des christlichen Mittelalters.

Die Augsburger Prozession selbst folgte in ihrem Ablauf dem Bericht im Johannesevangelium und war somit zweigeteilt. Die Palmweihe fand in St. Afra statt,15 wo offensichtlich auch der Palmesel abgeholt wurde. Von hier zog Ulrich mit dem Bildwerk, begleitet von einer großen Volksmenge, in Richtung Dom. Von dort kam ihnen eine Gruppe entgegen, die das Volk von Jerusalem darstellte. Am Perleich – einem Hügel in Augsburg – stieß das „Volk“ auf den „Heiland“ und es folgte der feierliche Einzug in „Jerusalem“.16

Diese Schilderung kann für die folgenden Jahrhunderte als Muster betrachtet werden. Zwar unterlag der Ritus einem historischen Wandel und bildete unterschiedliche regionale Varianten aus, doch kristallisieren sich beim Vergleich verschiedener Quellen konstant bleibende Strukturen heraus. Die Prozession verlief meist über mehrere Stationen, an denen festgeschriebene Riten zelebriert wurden, von einer Kapelle außerhalb der Ortschaft bis in die Kirche. Den Auftakt bildete ein Lesegottesdienst, dem sich die Benediktion der Palmzweige anschloss, bei denen es sich im nordalpinen Raum freilich in der Regel um Buchsbaumzweige und Äste anderer immergrüner Gewächse handelte. Nachdem sich der Zug unter Gesängen in Bewegung setzte, erfolgte an einer zweiten Station – meist an einem Stadttor oder dem Dorfeingang – vor dem Palmesel die Huldigung mit dem Hymnus Gloria laus (Lob dem Christuskönig). Der zelebrierende Priester warf sich vor dem Esel nieder und wurde von einem anderen Geistlichen in Anlehnung an das Gotteswort „percutiam pastorem“ (Ich werde den Hirten schlagen) rituell leicht geschlagen. Die Prozessionsteilnehmer warfen ihre Palmen als Ehrenbezeugung vor oder gegen das Holzbildnis. Dann führte die Prozession unter dem liturgischen Wechselgesang Ingrediente Domino weiter zur Kirche, wo der Ritus mit der Eucharistie beendet wurde.17

Der Blick auf die Geschichte der Palmprozession und die Betrachtung ihrer rituellen Struktur hält einige Besonderheiten, ja Überraschungen parat. Zunächst erscheint bereits die Erwähnung eines plastischen Bildwerkes in der Zeit Bischof Ulrichs als außergewöhnlich, standen doch Skulpturen in dieser Epoche noch unter dem Generalverdacht der Idolatrie. Darüber hinaus nimmt jedoch auch die Verehrung, die der Figur des Palmesels im Laufe der Prozession zuteil wurde, besondere Züge an. Wir erfahren nicht nur von der Huldigung des Priesters vor dem Kunstwerk, sondern auch von der Ehrerbietung der Prozessionsteilnehmer durch Gesänge und das anschließende Geleit in die Stadt, bei dem die Palmzweige wie im biblischen Bericht auf den Weg gelegt und geworfen werden. Welch hohe religiöse Vorstellungen sich an diese Huldigung knüpften, verdeutlicht die Tatsache, dass die Zweige, die während der Prozession Verwendung fanden, im Anschluss eingesammelt und als Sakramentalien mit großer apotropäischer Wirkung mit nach Hause genommen wurden.18 Die benedizierten Zweige gewannen nach der Vorstellung der Gläubigen ihre Kraft nicht allein aus der vorangegangenen priesterlichen Weihe, sondern auch aus dem direkten Kontakt mit dem hölzernen Bildwerk. Deshalb wurden die Palmen oft nicht auf den Weg, sondern auf den Palmesel selbst geworfen, wobei dem erstgeworfenen Zweig die stärkste Kraft zugeschrieben wurde.19 Für diese Vorstellung, um die sich Aspekte des populären Volksglaubens zu gruppieren scheinen, liefern die Ausführungen des St. Gallener Bürgers Johannes Kessler, aus den Jahren nach der Reformation ein besonders anschauliches Zeugnis:

„Die Palmstuden, so an dem Palmtag gesegnet, sind nit allein kreftig für tüffelsche gespenst, sunder och alle ungewitter, donder, hagel, platzregen zu vertriben, so die angezündt und der roch dem wetter entgegenschlacht. Umb solcher tugend willen sind sie durch jahre behalten.“20

Den zeitgenössischen Vorstellungen zufolge wohnte also dem Palmesel eine heilige Kraft inne, die er zum Nutzen der Gläubigen mittels Berührung abgeben und gleichsam reproduzieren konnte. Diese apotropäische Wirkung, die auf die Palmzweige übertragen werden konnte, wurde ebenso der Figur selbst zugeschrieben. Wer sie berührte, „erlebte die heilende Kraft des Berührungszaubers.“21 Das Phänomen der Kraft lässt den Palmesel somit zu einem religiösen Objekt von besonderem Rang werden. Die Medialität des Bildwerks bestand nicht allein darin, als Mittler zur Sphäre des Heiligen zu fungieren, sondern schloss ebenso die Möglichkeit ein, heilende Kraft auszusenden, und durch Berührung Sakramentalien zu generieren.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, worin die Sonderstellung der Palmeselfigur begründet ist und aus welchen religiösen Vorstellungen sich die Kraft konstituierte, die ihr im Akt der Prozession zugesprochen wurde.

Die Sonderrolle ‚handelnder Bildwerke‘ im Bildverständnis des Mittelalters

Wie gezeigt wurde, hat sich der Gebrauch des Palmesels bereits in der Zeit um 1000 etabliert,22 wodurch seine Entstehung in die Frühphase der christlichen Bildkultur im Bereich vollplastischer Kunst fällt. Ihre Rechtfertigung gegenüber Vorbehalten und dem Verdacht der Idolatrie erfuhren die Pionierwerke der christlichen Skulptur in aller Regel durch ihre Verwendung als Reliquienskulpturen. Ein anschauliches Beispiel für den theologischen Umgang mit Bildwerken in dieser Zeit bietet das Buch über die Wunder der heiligen Fides (liber miracolorum S. Fidis) des Bernhard von Angers aus dem 11. Jahrhundert. Bei diesem, in der literarischen Form eines Reiseberichts verfassten Text, handelt es sich um ein rhetorisch ausgeklügeltes Plädoyer für die Rechtmäßigkeit plastischer Darstellungen. Der Autor legitimiert die anthropomorphe Skulptur der Fides – der ältesten bekannten Großskulptur des Mittelalters (letztes Viertel des 9. Jh. mit späteren Überarbeitungen) – mit dem Verweis auf die im Inneren befindliche, Wunder wirkende Schädelreliquie der Heiligen, der die Verehrung in Wirklichkeit gelte.23

Dementsprechend weist der Großteil der plastischen Werke dieser Zeit Reliquiendepositorien für die Unterbringung heiliger Körperpartikel oder Berührungsreliquien auf. Durch die eingelassenen Reliquien wurde die skulpturale Darstellung gegenüber theologischen Vorbehalten legitimiert und zugleich mit dem Leben und der virtus – der Kraft des Heiligen – aufgeladen.24 Das plastische Bildwerk gibt der Körperreliquie oft das menschliche Aussehen zurück, das sie durch Verwesung und Zerstückelung verlor25 und ermöglicht zugleich dem Heiligen – den die Reliquie als pars pro toto vergegenwärtigt – durch das Bild zu wirken.26

In dieser von der Forschung weithin anerkannten „Allianz von Reliquie und Bildwerk“27, die eine Grundlage für den Einzug des Bildwerkes in den Kirchenraum darstellte, zeigen sich jedoch deutliche Risse, wenn man sich vor Augen führt, dass die ähnlich früh entstandenen Palmeselfiguren hingegen zu keiner Zeit Reliquien in sich bargen und offensichtlich keiner derartigen Legitimation durch den Reliquienkult bedurften. Sie bezogen somit ihre Kraft im Gegensatz zu vielen Wunder wirkenden Bildwerken nicht aus der Verbindung mit einer Reliquie. Diese Besonderheit liegt keineswegs allein darin begründet, dass man von der Person Christi nur über äußerst seltene Berührungsreliquien verfügte. Vielmehr zeigt sich in dieser parallel erscheinenden Autonomie gegenüber der Reliquie ein verbindendes Charakteristikum handelnder Bildwerke.28 ‚Handelnde Bildwerke‘ „inkarnieren“ nicht per se etwas Heiliges, noch waren sie seine Hülle. Sie haben, so Johannes Tripps, „weder die Aura des Diipetes noch des Acheiropoieton oder des Noumenon, wie die älteren Ikonen in Byzanz und Rom und verfügen somit über keine übernatürliche Entstehungslegende, aus der sie ihre Authentizität, ihre wundersame Kraft und vor allem ihren Kult beziehen.“29 Sie dienten einzig der Transponierung des Wortes in Szenen und sollten die Heilsgeschichte „aktiv in der Gegenwart erfahrbar machen.“30 Der substantielle Unterschied zwischen Reliquienskulpturen und ‚handelnden Bildwerken‘ resultiert somit aus einer durch eine abweichende Funktion begründeten Genese. Sie erwarben ihre Übernatürlichkeit und ihre Heiligkeit „im Verein mit der Liturgie, aus der sie geboren sind. (…) Sie sind somit auch keine Andachtsbilder und fordern nicht zur stillen, allein in der meditativen Versenkung erlebten Compassio auf.“31 Ganz im Gegenteil überwinden sie bewusst jene Distanz, die das gesamte Kirchenjahr über zwischen dem Heiligenbild und dem davor Betenden herrscht, indem sie sich zur Vergegenwärtigung eines bestimmten Heilsgeschehens gleichsam unter die Menschen begeben, wobei ihnen nicht zuletzt durch die Bewegung der Charakter eines handelnden Wesens zukommt. Hierbei bleibt allerdings ihre Verwendung – wie das Beispiel des Palmesels illustriert – untrennbar an einen bestimmten Aspekt der Liturgie und in der Regel somit an einen bestimmten Tag des Kirchenjahres oder sogar eine bestimmte Stunde im Tagesverlauf gebunden.32 Sie sind in diesem Punkt jedoch nicht etwa mit Ikonen zu vergleichen, die bei bestimmten Prozessionen mitgeführt wurden, aber selbst nicht aus ihnen hervorgingen. Palmesel waren integraler Bestandteil einer Liturgie außerhalb derer sie nicht kultisch verehrt wurden. Zwar liegen Berichte vor, dass die Figur des Palmesels, auch vereinzelt außerhalb ihres österlichen Auftritts als Andachtsbild in Kirchen und Klöstern Aufstellung fand,33 doch diente sie in dieser Verwendung nur der compassio und wurde nicht als handelndes Wesen gesehen, das durch Berührung heilen oder Palmzweige weihen konnte.

Die auf einen klar begrenzten Zeitraum fixierte mediale Transformation oder (Ver-)Wandlung des Palmesels in ein wirkkräftiges Bild unterscheidet ‚handelnde Bildwerke‘ von anderen Formen heiliger und Wunder wirkender Bilder. Aus diesem Grund darf der Schritt nicht ausbleiben, das Bildwerk eingebettet in seinen Verwendungskontext zu beleuchten und dabei den performativen Wirkungsmechanismen und symbolischen Sinnschichten der Prozession besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Die Prozession, ein Akt der Performanz

Der Schlüssel zum Verständnis der heiligen Aufladung, die der Palmesel während der Liturgie erfährt, liegt im Akt der Prozession. Hier kommt nicht allein der Aspekt der (scheinbar) selbstständigen Bewegung zum Tragen. Vielmehr werden im Zuge der Distanzverkürzung zu den Gläubigen auch neue Relationen zwischen dem Objekt und den beteiligten Personen geschaffen. An die Stelle der individuellen Kontemplation tritt ein Gemeinschaftsakt, der sich greifbar vor den Augen aller abspielt und auf die kollektive Partizipation abzielt. Prozessionen wie die hier betrachtete zählen zu den wenigen Anlässen des Kirchenjahres, die es den Menschen der Gemeinde erlaubten, innerhalb eines von den liturgischen Abläufen abgesteckten Rahmens, selbst zu Akteuren einer weihevollen Handlung zu werden. Sie stellten daher für die Gemeinde Höhepunkte dar, die mit großer Hoffnung erwartet wurden. Denn wo konnte die Gottesschau größere Wirkung entfalten als in der (noch dazu bilderarmen) Osterzeit, die theologisch mit dem Opfertod und dem Erlösungsgedanken verknüpft ist?

Der Eindruck einer direkten Teilhabe am heiligen Akt wurde durch die charakteristische Verwendungsweise des Bildwerks in der Palmsonntagsprozession maßgeblich befördert. Hierbei kommt dem Fakt der scheinbaren Selbstständigkeit der Bewegung große Bedeutung zu, denn die Fortbewegung auf Rädern vermeidet bewusst die Distanzierung und Überhöhung, die charakteristisch für getragene Prozessionsbilder ist. Der Palmesel verlässt somit nicht nur den sakralen Raum der Kirche, sondern überschreitet auch die distanzierenden Grenzen, die durch nobilitierende Rahmungen, Sockel oder die Platzierung von Skulpturen in Nischen erzeugt werden. Durch den Verzicht auf einen Sockel – der wie der Rahmen eines Gemäldes, ein Bildwerk von seiner Außenwelt abgrenzt und damit immer eine Distanz generiert – wird gleichsam die ästhetische Grenze zum Realraum überwunden; die Gestalt Christi auf dem Palmesel tritt dem Betrachter somit unmittelbar gegenüber, wodurch besondere Rezeptionsbedingungen geschaffen werden, die für den Umgang mit dem Bildwerk während der Prozession von tragender Bedeutung sind. Zwar verfügt der Palmesel über eine sockelartige Standfläche, doch hat diese keinen direkten Kontakt zum Boden; sie ist rudimentär und eher als technische Notwendigkeit zur Anbringung der Radachsen anzusehen, denn als Sockel. Durch das Moment der Fortbewegung wird die distanzierende Wirkung des mit Rädern versehenen Podests schließlich aufgehoben.

Wenn am Palmsonntag der Einzug Christi in Jerusalem vergegenwärtigt wurde, übten sich die Teilnehmer nicht nur in frommer Erinnerung, sondern schlüpften im Laufe der Zeremonie gleichsam in die Rolle des Volkes von Jerusalem. Zugleich repräsentiert und verkörpert die inmitten der Prozession bewegte Palmeselfigur in effigie den unsichtbar anwesenden Christus. Der Palmesel erreicht seine Suggestivkraft während der Prozession somit nicht allein durch die lebensnahe Gestaltung in Verbindung mit seiner Bewegung, sondern vor allem durch den gleichsetzenden Signifikationsakt der Substitution. Dieses Moment ist für das Verständnis der Aufladung der Palmeselfigur mit heilender Kraft von zentraler Bedeutung. Da das Bildwerk nunmehr als Substitut für Christus behandelt wird, kommt es in gewisser Weise zu einer Aufhebung seines Objektcharakters und somit zu seiner Verlebendigung. Das Bild wird zu einem realen, handelnden Akteur und Gegenüber. Die hier stattfindende Substitution lässt sich durchaus mit der Substitutionstheorie vergleichen, die Hans Gombrich in seinem „Steckenpferd-Aufsatz“ formuliert.34

Der kollektiv vollzogene Akt der Gleichsetzung und die damit verbundene Verlebendigung lassen in der Rezeption die Bedeutung der mimetischen Qualität der künstlerischen Umsetzung in den Hintergrund treten. Mit diesem Phänomen im Umgang mit religiösen Kunstwerken, das oft in gemeinschaftlich erlebten und „affektbetonten Situationen“ hervortritt, beschäftigten sich auch Ernst Kris und Otto Kurz:

„Je ’stärker‘ der Glaube an die magische Funktion des Bildes, an die Gleichheit von Bild und Abgebildetem ist, desto weniger bedeutet es, wie das Bild beschaffen sei.“35

Vor diesem Hintergrund waren auch realitätsferne Details, wie die für den heutigen Betrachter seltsam anmutenden Holzräder des Palmesels, die bei der Fortbewegung über das Pflaster klapperten, für den mittelalterlichen Prozessionsteilnehmer kein Hindernis für die religiöse Vertiefung.

Der Vorgang, der gleichermaßen das Bildwerk wie die beteiligten Gläubigen zu Akteuren des Geschehens werden lässt und zur Verlebendigung der reitenden Christusfigur führt, hat jedoch darüber hinaus ebenso Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Schauplatzes, also die Dimension des Raumes. Neben die beiden Rollenwechsel, die die Verlebendigung der Skulptur und die Integration der Teilnehmer mit sich bringt, tritt die Transformation des Ortes: Der profane Stadtraum wird im Akt der Re-Inszenierung vorübergehend zu einem Ort des Sakralen und zu einem Schauplatz, an dem im Hier und Jetzt der Ankunft Christi beigewohnt werden konnte. Vor dem Hintergrund der im 12. Jahrhundert wachsenden Schaufrömmigkeit, ist dieses Moment der Verkörperung und Vergegenwärtigung in seiner Bedeutung kaum hoch genug einzuschätzen. Die kollektiv vorgestellte Ankunft Christi überlagert und durchdringt den realen (topographischen) Ort und lässt die Gegenwart gleichsam transparent für die biblische Handlung werden. In diesem Miterleben der Heilsgeschichte kommt es zu einem „von Zeit durchwirkten Blick“36 bzw. zu einem „erinnernden Sehen des Betrachters“37 aus dem sich die ephemere Konstruktion eines „performativen Raumes“38 ergibt. Diesem ist eine spezifische Atmosphäre zu eigen: Aus dieser „gemeinsamen Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“,39 die vom Zusammenspiel von Verkörperung und Transparenz40 geprägt ist, schöpft der Palmesel seine heilende und apotropäische Kraft, die er an die Palmzweige abgibt. Wir haben es also hier mit einem Phänomen zu tun, das sich mit jenem „sonderbaren Gespinst von Raum und Zeit“ vergleichen lässt, für das Walter Benjamin den Begriff der ‚Aura‘ geprägt hat.41

Allerdings muss in diesem Fall mit einer modifizierten Form der Denkfigur Benjamins operiert werden. Es handelt sich hier um eine Form von Aura, die nicht an das Objekt gebunden ist und sich somit nicht aus dessen Einmaligkeit und Authentizität konstituiert, sondern sich im gemeinsam be- und erlebten Ereignis des inszenierten Empfangs Christi an den Toren der Stadt entfaltet. Somit ist es eine gänzlich andere auratische Erscheinung als die „performative Patina“, von der Christof Diederichs in Bezug auf die Weisung der Reichskleinodien spricht.42 Man könnte daher hier von einer performativen Aura sprechen: Ein historisches Geschehen der Heilsgeschichte rückt in sichtbare, greifbare und spürbare Nähe und bleibt dennoch fern und unnahbar. In den Worten Walter Benjamins: Eine „einmalige Erscheinung von Ferne so nah sie sein mag.“43 „Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes.“44

Eine wichtige Rolle in der Reinszenierung des biblischen Geschehens scheinen auch die verschiedenen Tore gehabt zu haben, die bewusst als symbolische Stationen in den Verlauf der Prozessionsstrecke einbezogen und passiert wurden. Neben dem Kirchenportal, dem letzten durchschrittenen Tor der Prozession, spielte hierbei vor allem der Dorfeingang oder das Stadttor eine besondere Rolle. So ist beispielsweise aus dem 14. Jahrhundert überliefert, dass die Palmsonntagsprozession in Soissons vor den verschlossenen Toren der Stadt Halt machte, und nach Jubel-Rufen und Gesängen eingelassen wurde. Dieser jährliche Ritus wurde namensgebend für das Stadttor: Abgeleitet vom hebräischen „Hosanna“, dem Ruf mit dem Christus in Jerusalem empfangen wurde, trägt das Tor den Namen Porte Hozanne.45

Das Stadttor hatte allgemein als markanter topographischer Punkt schon von sich aus eine vielschichtige Symbolik. Blieben die Tore geschlossen, bildete es zusammen mit der Mauer eine architektonische Grenze, ein Bollwerk, das zum einen militärischen Nutzen hatte, und zum anderen auch ein Zeichen politischer Souveränität darstellen konnte. Im geöffneten Zustand haben Tore jedoch immer auch einen Übergangscharakter. Sie sind die Schwellen zwischen unterschiedenen Räumen und Sphären. Im Laufe der Prozession bildeten sie Orte des Übergangs, an denen der sakrale und der profane Raum miteinander zur Verschmelzung kamen. Sie übernehmen somit gleichsam die Rolle von Schaltstellen für die Schaffung des performativen Raumes.

„Der Betrachter, der sich zwischen diesen Koordinaten bewegt, reinszeniert die Bedeutungszuweisungen und schreibt sich in einen Transformationsprozess ein.“46

Im Akt der Prozession schwingt somit – damals wie heute – neben dem primären Bezugspunkt der Kirche und des Himmlischen immer auch die Affirmation weltlicher Verhältnisse mit, bietet sich doch im feierlichen Zug die Gelegenheit, die Hierarchie der Gesellschaft widerzuspiegeln. Dies geschah im Mittelalter zumeist durch die geregelte Reihenfolge der Stände und Zünfte innerhalb der Prozession.47 Die Prozession ist somit als Kommunikationskomplex anzusehen, der die Visualisierung sowohl geistlicher als auch weltlicher Bezugssysteme einschließt.48

Heilsgeschichte in greifbarer Nähe

Die abschließende Perspektive auf den Gesamtzusammenhang der Prozession hat ergeben, dass der Aspekt der Performanz für das Verständnis des hier behandelten Bildwerks und seiner Verehrung von grundlegender Bedeutung ist. Die Transformation des Palmesels in ein apotropäisch wirkendes, mit Kraft aufgeladenes Bildwerk lässt sich nur durch die Einbeziehung des ephemeren Prozessionsgeschehens erklären, in das er eingebettet ist. In der Rezeption kommt es gleichsam zu einer gegenseitigen Wechselbeziehung zwischen dem alle Sinne ansprechenden Prozessionsereignis und der Palmeselfigur. Der Palmesel, der als Musterbeispiel für ‚handelnde Bildwerke‘ gelten kann, hatte die Aufgabe das Heilsgeschehen anschaulich zu vergegenwärtigen und trug seinerseits dazu bei, die Prozession zu überhöhen und sie zu einem aus dem Alltag herausgehobenen ‚auratischen‘ Ereignis werden zu lassen, in dem die Heilsgeschichte in greif- und fühlbare Nähe rückte.

Hierbei lässt sich die rituelle Inszenierung im Sinne der Performanztheorie durchaus mit dem Begriff „Ereignis‘ bezeichnen, welcher in der Auseinandersetzung mit performativer Kunst an die Stelle des Begriffs ‚Kunstwerk‘ tritt. Das Ereignis verfügt wie ein Kunstwerk über Begrenzungen bzw. einen Rahmen (im Falle der Prozession der topographische Ort und der festgelegte Zeitraum) und über eine nach bestimmten Regelmäßigkeiten gestaltete Struktur (im Falle der Prozession die rituelle Gliederung). Der Rahmen erfüllt die Funktion Grenzen zu definieren und das Werk bzw. das Ereignis aus seinem Umfeld bzw. der Alltäglichkeit herauszulösen.

Im Unterschied zum herkömmlichen Werkbegriff fallen im Ereignis Produktion und Rezeption zusammen und werden unter Einbindung aller Beteiligten im selben Raum und zur selben Zeit vollzogen.49

Die starke Suggestivkraft, die vom Palmesel und dem inszenierten Ereignis auf die Prozessionsteilnehmer ausging, wurde von der im 12. Jahrhundert aufkommenden Schaufrömmigkeit vorangetrieben und lässt sich somit nur vor dem Hintergrund der epochenspezifischen religiösen Praxis verstehen. Folgerichtig musste der Wandel der Frömmigkeitspraxis auch die Rezeption der Prozession und des Palmesels verändern. So zeigt sich denn auch im 18. Jahrhundert im Zuge der rationalen Umwälzungen der Aufklärung eine deutliche Tendenz zur Profanierung in der Verwendung und Wahrnehmung des Palmesels, die schließlich dazu führte, dass der hölzerne Reiter aus seiner Einbindung in die liturgische Praxis entlassen wurde.50

 

  1. Adelmann, J.A.: „Christus auf dem Palmesel“. In: Zeitschrift für Volkskunde 63 (1967), S.182-200.
  2. Tripps, Johannes: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik, München 1998.
  3. Tripps, Johannes: „Der Kirchenraum als Handlungsort für Bildwerke. Handelnde Altarfiguren und hyperwandelbare Schnitzretabel“. In: Nicolas Bock/ Sible de Blaauw/ Christoph Luitpold Frommel u.a.(Hg.): Kunst und Liturgie im Mittelalter, München 2000, S. 235-247, hier S. 235.
  4. Taubert, Johannes: Farbige Skulpturen, Bedeutung, Fassung, Restaurierung, München 1978, S. 38-50.
  5. Hierzu Tripps 1998, S. 7ff.
  6. So wurde etwa in Trier im Jahr 1783 und in Augsburg bereits 1774 ein Verbot durch den Erzbischof ausgesprochen. Andreas Heinz: „Palmprozession und Palmesel in Trier“. In: Kurtrierisches Jahrbuch 46 (2006), S. 164f.
  7. Tripps, S. 112f.
  8. Röwekamp, Georg (Hg.): Egeria Itinerarium – Reisebericht mit Auszügen aus Petrus Diaconus, De locis sanctis – Die heiligen Stätten, Freiburg 1995, S. 259.
  9. Röwekamp, Georg: „Einleitung zu Egeria Itinerarium“. In: Röwekamp 1995, S. 91.
  10. Ebd., S. 259. Vgl. auch Heinz 2006, S. 159ff.
  11. Tripps 1998, S. 90.
  12. Heinz 2006, S. 160.
  13. Bischof Ulrich von Augsburg starb 973, die Vita wurde anlässlich seiner Heiligsprechung verfasst.
  14. Tripps 1998, S. 91f.
  15. Die Zweiteilung des Prozessionsablaufs ist ein westliches Konzept, das erst im 12. Jahrhundert durch den Einfluss der Westkirche auch im Heiligen Land eingeführt wurde.
  16. Tripps 1998, S. 89.
  17. Burg, Christian von: „Das bildt vnseres Herren ab dem esel geschlagen. Der Palmesel in den Riten der Zerstörung“. In: Peter Blickle/ André Holenstein u.a. (Hg.): Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, München 2002, S. 120.
  18. Ebd., S. 125.
  19. Ebd.
  20. Johannes Kessler: Sabbata, zit. nach Burg ebd.
  21. Holenstein, André/ Schmidt, Heinrich Richard: „Bilder als Objekte – Bilder in Relationen. Auf dem Wege zu einer wahrnehmungs- und handlungsgeschichtlichen Deutung von Bildverehrung und Bildzerstörung“. In: Peter Blickle, André Holenstein u.a. (Hg.): Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, München 2002, S. 516.
  22. Nach Überzeugung von Johannes Tripps hat ebenfalls in Essen bereits um das Jahr 1000 eine mit der Schilderung der Ulrich-Vita vergleichbare Prozession stattgefunden. Tripps 1998, S. 102.
  23. Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, S. 335 ff. bzw. Quellentext 34, III, S.595 ff.
  24. Angenendt, Arnold: „Figur und Bildnis“. In: Gottfried Kerscher (Hg.): Hagiographie und Kunst. Der Heiligenkult in Schrift, Bild und Architektur, Berlin 1993, S. 107-119; siehe auch: Beck, Herbert/ Bredekamp, Horst: „Bilderkult und Bildersturm“. In: Werner Busch (Hg.): Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktion, München 1997, S. 80-106.
  25. Belting 1993, S. 331.
  26. Freedberg, David: The Power of images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago 1989, S. 91ff.
  27. Belting 1993, S. 336.
  28. Tripps 1998, S. 9.
  29. Ebd., S.10.
  30. Ebd., S.11.
  31. Ebd.
  32. Ebd. S. 15, siehe auch Tripps 2000, S. 241.
  33. Burg 2002, S. 123ff.
  34. Mit dieser Position nimmt Gombrich innerhalb der Bildtheorien eine Zwischenstellung zwischen Zeichentheorie und Wahrnehmungstheorie ein. Während des Spiels mit dem Stecken verwandelt sich dieser in ein reales Pferd. Gombrich, Hans: Meditation über ein Steckenpferd. Die Wurzeln der bildnerischen Phantasie, Wien 1973.
  35. Kris, Ernst / Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a. M. 1995, S. 106.
  36. Didi-Hubermann, Georges: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999, S. 137.
  37. Boehm, Gottfried: „Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens“. In: Ders. u.a. (Hg.): Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, München 1985.
  38. Zum Begriff des ‚performativen Raumes‘ Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 18ff.
  39. Gernot Böhme, zit. nach: Diederichs, Christof L.: „Reliquientheater. Die Weisung der Reichskleinodien in Nürnberg, oder: Performative Patina mittelalterlicher Kunst“. In: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Diskurse des Theatralen, Tübingen 2005, S. 226.
  40. Man könnte an dieser Stelle auch den Begriff der ‚Transzendenz‘ verwenden, doch drückt meines Erachtens ‚Transparenz‘ besser den Aspekt der Gleichzeitigkeit aus, der für die beschriebene Überlagerung des realen Geschehens bzw. Schauplatzes und der Erfahrung der biblischen Historie von prägender Bedeutung ist.
  41. Benjamin, Walter: „Kleine Geschichte der Photographie.“ In: Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1991, Bd. II (2), S.378.
  42. Diederichs 2005.
  43. Benjamin 1972, S. 480.
  44. Ebd.
  45. Tripps 1998, S. 90; zu den Hosanna-Rufen beim Einzug Christi in Jerusalem siehe Mt 21,9.
  46. Kern, Margit: „Performativität im Bereich von Tür und Tor. Eine Ikonologie der Bewegung“. In: Margit Kern (Hg.): Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, München 2005, S. 32-48.
  47. Über die Verbindung zwischen dem geistlichen Prozessionsritus und der weltlichen Ordnung Burg 2002.
  48. So wie den kirchlichen Umzügen gewisse weltliche Aspekte verbunden bleiben, hatten auch die in den Quellen als adventus bezeichneten Einzüge der Könige und Kaiser eine bewusst inszenierte sakrale Seite. Über die Inszenierung der Stadteinzüge der deutschen Kaiser liegt eine, auf die Zeit des Alten Reichs fokussierte Darstellung von Bernd Roeck vor. Siehe Roeck, Bernd: „Die ästhetische Inszenierung des Reiches. Aspekte seiner frühneuzeitlichen Ikonographie“. In: Heinz Schilling (Hg.): Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806, Bd. 2, Dresden 2006, S. 215-228.
  49. Fischer-Lichte 2004, S. 21ff.
  50. Zur Profanierung der Palmeselprozession Boosen, Monika: „Die mittelalterlichen Palmeselgruppen aus Schwäbisch Gmünd“. In: Ausst.-Kat. Schwäbisch Gmünd. Der Palmesel Geschichte, Kultur und Kunst, Schwäbisch Gmünd 2000, S. 17ff.

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