Am 25. Juli 2009 jährte sich der Todestag von Otto Dix zum 40. Mal. Aus diesem Anlass zeigte die Kunsthalle Krems1 die bislang größte Werkschau des Künstlers in Österreich, und die Berliner Galerie Nierendorf2 präsentierte ihren enormen Bestand an Grafiken. Vielfach konzentrieren sich die Otto Dix gewidmeten Ausstellungen jedoch auf sein Werk der 20er und 30er Jahre, das unter dem Sammelbegriff Neue Sachlichkeit bekannt ist. Frühere Werke des Künstlers, insbesondere die Gemälde und Zeichnungen, die vor und während seines Einsatzes im Ersten Weltkrieg entstanden sind, stehen dahinter oftmals zurück, obschon sie die Grundlage seines späteren Schaffens bilden.3 So werden die Vorkriegsgemälde in der Forschung oftmals nur am Rande behandelt und verschwinden in der Fülle des Dixschen Gesamtwerkes.
Zum Selbstbildnis als Mars (Abb. 1), das in der vorliegenden Untersuchung im Vordergrund stehen soll, findet sich beispielsweise nur eine genauere, aber teilweise fehlerhafte Werkbesprechung.4 Die Dixschen Kriegszeichnungen sind durch die umfangreichen Werkverzeichnisse von Ulrike Rüdiger5 und Ulrike Lorenz6 mittlerweile zwar vollständig aufgearbeitet, eine ausführlichere inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen erfolgt jedoch selten. Um das Verhältnis des Künstlers zum Krieg zu beschreiben, wird eher auf die Werke nach 19207 zurückgegriffen. Der vorliegende Beitrag möchte daher an die ersten Kriegsbildnisse von Otto Dix erinnern und zugleich dessen besonderes Verhältnis zum Krieg beleuchten.
Wohl kaum ein anderer Maler hat den Ersten Weltkrieg ähnlich intensiv erlebt und sich so eingehend künstlerisch mit ihm auseinandergesetzt wie Otto Dix. Im Gegensatz zu vielen seiner damaligen Künstlerkollegen wie Oskar Kokoschka und Wilhelm Lehmbruck harrte Dix beinahe die gesamte Kriegszeit an vorderster Front und unter steter Lebensbedrohung aus. Seine Erlebnisse hielt er in Bildern fest. Der Erste Weltkrieg war dabei nur der Beginn der untrennbaren Verbindung, die zwischen dem Künstler und dem „(Natur)ereignis“8 Krieg bestand.9
Dix zieht in den Krieg
Als fast 23-Jähriger meldet sich der 1891 in Gera-Untermhaus geborene Arbeitersohn freiwillig zum Kriegsdienst. Er bricht seine Studien an der Dresdner Kunstgewerbeschule ab, die er nach abgeschlossener Dekorationsmalerlehre mit finanzieller Unterstützung durch Fürst Reuß im September 191010 aufgenommen hatte, und wird in Dresden eingezogen.11 Sein künstlerisches Schaffen wird dadurch jedoch nicht unterbrochen. Vor allem die Selbstbildnisse, die während der Zeit seiner Ausbildung zum MG-Schützen sowie nach dem aktiven Eintreten in das Kampfgeschehen entstehen, spielen hier eine entscheidende Rolle. Sie spiegeln sowohl die Selbstsicht des Künstlers als auch seine jeweilige Haltung zum Krieg wider. Als Selbstporträts dienen sie der „Auseinandersetzung des Künstlers mit seiner Existenz und der „Selbsterforschung“ und „Selbstbewusstwerdung“.12
Als Folge imperialistischen Hegemonialstrebens der europäischen Großmächte, ihrer Unfähigkeit und mangelnden Bereitschaft, die Krise auf dem Balkan diplomatisch zu befrieden, bricht Ende Juli 1914 der Erste Weltkrieg aus.13 Damit einher geht eine taumelnde, nahezu rauschhafte Begeisterung gegenüber einem vollkommen unterschätzten Krieg; die siegesgewisse „Weihnachten-sind-wir-wieder-zu-Hause“-Mentalität findet im Deutschen Reich allgemeine Verbreitung.14 Während sich der Großteil der damaligen Generation von Künstlern, Literaten und Intellektuellen vielfach mit der Hoffnung auf einen Neubeginn und dem Wunsch nach einer Überwindung der alten Werte des wilhelminischen Bürgertums euphorisch in den Krieg stürzt, treibt Otto Dix eher eine Art voyeuristische Neugier - das Bedürfnis die Höhen und auch die Tiefen der menschlichen Existenz unmittelbar als Augenzeuge mitzuerleben und den Menschen dadurch besser kennenzulernen. 1961 äußerte Dix in einem Interview:
„Der Krieg war eine scheußliche Sache, aber trotzdem etwas Gewaltiges. Das durfte ich auf keinen Fall versäumen. Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen…“.15
Im August 1914 meldet sich Dix zum Kriegsdienst. Rückblickend sagte er 1963:
„Ich mußte das alles selber erleben. Ich bin so ein Realist, wissen Sie, daß ich alles mit eigenen Augen sehen muß, um das zu bestätigen, daß es so ist… Also ich bin eben ein Wirklichkeitsmensch. Alles muß ich sehen. Alle Untiefen des Lebens muß ich selber erleben; deswegen gehe ich in den Krieg, und deswegen habe ich mich auch freiwillig gemeldet“.16
Mit seinem Freund Kurt Lohse wird Otto Dix zunächst ins Dresdner Feld-Artillerieregiment eingezogen, später (im Frühjahr 1915) nach Bautzen zur Ausbildung zum MG-Schützen versetzt.
Das Selbstbildnis als Mars
Während seiner Ausbildung – und das muss zum richtigen Verständnis des zu behandelnden Gemäldes berücksichtigt werden – entsteht das Selbstbildnis als Mars.17 Zu diesem Zeitpunkt hatte Dix die wahren Schrecken des Krieges also noch nicht gesehen oder am eigenen Leib erfahren. Somit werden darin keine „konkrete(n) Erlebnisse“ verdichtet, „die Dix als Soldat an der Westfront unwillkürlich gesammelt hat“, wie Ivana Tomaschke in ihrer Werkbesprechung anmerkt.18
In der Bildmitte erkennt der Betrachter einen männlichen Kopf, im Halbprofil nach links gewandt: Dem Titel nach handelt es sich dabei um den Künstler. Dix trägt einen Artilleriehelm und eine blau-rote Uniform. Das Licht fällt von rechts unten auf die markanten Gesichtszüge, so dass die Augenpartie und seine rechte Gesichtshälfte verschattet werden. Vom Gesicht ausgehend breiten sich kaleidoskopartige Brechungen strahlenförmig im Bildraum aus. Dort zeigt sich dem Betrachter eine verworrene, kleinteilig-kristallin aufgesplitterte „Gesamtschau des Krieges“19: Im Wirrwarr von undefinierbaren Formen erscheinen umstürzende Häuserzeilen, wankende Kirchtürme, kahle Baumsilhouetten, Totenschädel, Gräberkreuze, leidvoll verzogene Gesichterfratzen mit aufgerissenen blutenden Mündern, zahlreiche Augen und nicht zuletzt rote, im Sprung begriffene Pferde. Die einzelnen Formen und Gegenstände gehen wild ineinander über. Sie scheinen ungeordnet um den übergroßen Dixschen Kopf zu rotieren.
Drei gelblich-weiße, runde Gebilde stechen aus dem Chaos hervor. Sie wirken zum einen wie Einschusslöcher, zum anderen wie springende Sterne und zugleich wie Teile der Uniform. So könnte ein Stern den für einen Artilleriehelm typischen zentralen Sternaufsatz20 meinen, ein weiterer Stern dem Abschlussstück des Kettenriemens entsprechen, der den Helm auf dem Kopf des Soldaten hält. Ein anderer wiederum gleicht einem Militärabzeichen auf dem Schulterpolster der Uniform. Ähnlich wie diese drei Gebilde ist auch der Abschluss des Pickels auf dem Helm gestaltet. Vexierbildartig gerät der Uniformkragen zu einem sich aufbäumenden Pferd, die Dixsche Schulter zu einem Speichenrad, eine gelbe Gesichtsfratze links unten am Rand zu einem Brückenbogen. Dunkel gehaltene strudelrunde Flächen rahmen den Kopf ein, betonen ihn zusätzlich und ziehen ihn gleichsam in das Chaos hinein. So wird das Ohr nahezu vom Gesicht abgetrennt und der Helm verschwindet im Undefinierbaren. Die blau gehaltene Unterlippe wird aus dem Gesicht heraus einem Skorpionstachel gleich in den Hintergrund weitergeführt. Die rechte verschattete Gesichtshälfte gerät offenbar selbst zum Gesicht und gewinnt an Eigenleben.
Das Gemälde wurde in flüchtig-schneller Alla-Prima-Malerei ausgeführt. Pastos wurden die Farben aufgetragen, zum Teil sind Ritzungen zu erkennen. Die Farbpalette beschränkt sich vorwiegend auf die drei Primärfarben Rot, Blau und Gelb sowie auf Schwarz- und Weißtöne. In Malweise und Bildgestaltung orientiert sich Dix an den italienischen Futuristen, die in ihren Manifesten Aggressivität, Kampf und Krieg priesen und sich von Geschwindigkeit und umwälzender Dynamik berauscht zeigten.21 Werke von Boccioni, Carrà, Russolo und Severini hatte Dix noch kurz vor Kriegsausbruch in der Dresdner Galerie Ernst Arnold22 gesehen. Wie bereits in den Gemälden Billardspieler und Der Krieg bzw. Das Geschütz von 1914 verwendet Dix im Selbstbildnis als Mars ebenfalls die futuristischen Prinzipien der Zersplitterung und der Simultanität der Darstellung.23 Das Gemälde „steht als wichtiges Werk am Beginn der Dixschen Phase des Experimentierens mit kubo-futuristischen Prinzipien“,24 auf die der Künstler während der Kriegszeit später vermehrt zurückgreifen wird.
Infernales Chaos und gewaltige Kraftentladung
Unterstützt durch die expressive Farbgebung strotzt das Selbstbildnis als Mars vor Energie und Selbstbewusstsein. Es stellt eine gewaltige, alles zersprengende Kraftentladung dar. Die Welt wird in einem infernalen, chaosähnlichen Urzustand gezeigt. Die Grundfesten dieser Welt, die Natur und menschliche Erzeugnisse sind ins Wanken geraten und können neu geordnet werden. Menschen werden auf polygonale Fratzen und einzelne Körperteile reduziert. Das Inferno birgt dabei die Möglichkeit zu einem Neubeginn, zur Überwindung der althergebrachten Werte.25 Das gezeigte Chaos springt den Betrachter förmlich an. Es strahlt ihm entgegen. Die „dionysische“ Vorstellung von Chaos und dem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen sowie das Motiv des tanzenden Sterns, der im Bild mehrfach erscheint, rühren aus der Philosophie Friedrich Nietzsches her. Mit dieser hatte sich Dix bereits zwischen 1909 und 1914 intensiv auseinandergesetzt und wurde durch sie nachhaltig geprägt.26 „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“,27 heißt es in Zarathustras Vorrede.
Der Künstler selbst steht beinahe unberührt inmitten der ununterbrochenen Rotation und destruktiven, konfusen Wirbelbewegung. Dix erscheint unnachgiebig, hart und entschlossen. Sein Gesicht wirkt durch die markanten Züge wie ein ruhender Pol, oder vielmehr wie eine Zentrifuge in der steten Transformationsbewegung der ihn umgebenden Formen. Zugleich löst sein Kopf sich scheinbar im Chaos auf und wird vom diesem vereinnahmt. In einer Art historisch-allegorischem Bildnis, einem „portrait historié“ erhebt sich Dix selbst zu dem von den Römern gepriesenen Kriegsgott.28 Schubert bezeichnet das Gemälde gar als „egomane Identifikation mit dem Gott des Krieges“.29 Dix sieht sich selbst als impulsiven, alles bewegenden „Gestalter des Krieges“,30 als dessen Mittel- und Brennpunkt.
Tapferkeit und Einsatzbereitschaft
Die wahren Schrecken des Krieges erwarten den Künstler schließlich im Herbst 1915. Am 21. September rückt er mit seinem MG-Zug 390 in die Champagne und bewährt sich tapfer im Kriegsgemetzel, was bald folgende Beförderungen bezeugen.31 Den Krieg verbringt Dix hauptsächlich im Westen an Marne, Somme und Aisne sowie in Flandern. Erst 1917 wird er an der Ostfront eingesetzt.32 1918 meldet sich Dix zudem zur Ausbildung bei der Fliegerabwehr, wohl um den Krieg auch aus dieser Perspektive erleben zu können. Ein solcher Eindruck bleibt ihm aber ob des Kriegsendes im Herbst 1918 versagt.
Mit dem Fronteinsatz verliert sich für Dix die Möglichkeit zu malen. Es entstehen jedoch zahlreiche, meist ca. 28 x 29 cm große Zeichnungen und farbige Gouachen. Einen Großteil davon sendet er nach Dresden an Helene Jakob, die Tochter des Hausverwalters der Dresdner Kunstgewerbeschule, die er freundschaftlich mit „kara samideanino“ anredet.33 Der Briefwechsel zählt neben einem „Kriegstagebuch“ mit größtenteils eher militärrelevanten Auflistungen zu den wenigen schriftlichen Dokumenten aus der Kriegszeit von Otto Dix:
„Ich habe niemals Bekenntnisse schriftlich von mir gegeben, da ja … meine Bilder Bekenntnisse aufrichtigster Art sind, wie Sie sie selten in dieser Zeit finden werden“.34
Der plötzliche Tod
In den drei Kriegsjahren entstehen laut Conzelmann über 600 Zeichnungen,35 – erstaunlich, wie das im Grabenkrieg überhaupt machbar war.36 Es handelt sich dabei um spontan festgehaltene Erlebnisse, drastische Momentaufnahmen, die in wenigen Strichen mit schwarzer Tonschieferkreide, Kohle oder Graphit auf das Papier gebannt wurden. Sie zeigen zertrümmerte Ruinen, Laufgräben und zersprengt-zerklüftete Landschaften sowie nicht zuletzt Soldaten im Unterstand und an der Front im Moment des plötzlichen Todes.
Dix konzentriert sich auf das Wesentliche und nimmt Abstand von akribisch-genauer Wiedergabe des visuell Erlebten. Die anfänglich noch runden, weichen Formen werden allmählich von vereinfachten kubistischen, spitzen Formen abgelöst. Letztlich bleiben nur entindividualisierte Fragmente von Mensch, Landschaft und Gegenständen übrig. Hell-Dunkel-Kontraste dienen dabei der Strukturierung. Die stilistische Entwicklung, die man an den Dixschen Kriegszeichnungen ablesen kann und die zur besseren chronologischen Einordnung der einzelnen Blätter und Feldpostkarten stärker berücksichtigt werden sollte, endet schließlich weitgehend mit Abstraktion.37 Trotz zunehmender Formvereinfachung wird das Grauen des Krieges aber keinesfalls ausgeblendet, wie Matthias Eberle meint,38 sondern wird in jeder Zeichnung auf eigenartig beklemmende Weise gegenwärtig gemacht:39 Die von Dix festgehaltenen Trümmerlandschaften (wie auf der Feldpostkarte In den Trümmern von Aubérive, Abb. 2) beispielsweise führen dem Betrachter die zerstörerische Kraft des Krieges direkt vor Augen. Man spürt förmlich die vorangegangenen Bombeneinschläge, die tiefe Krater in die Landschaft gerissen haben: „Voll elementarer Wucht sind Granattrichter innerhalb Dörfern. Alles in der Umgebung scheint der Dynamik dieser gewaltigen sym(m)etrischen Trichter zu unterliegen. Es sind die Augenhöhlen der Erde (…)“, heißt es dazu auf der Rückseite der Postkarte.40
Ähnlich ausdrucksstark sind die Abbildungen verwundeter oder sterbender Kameraden. So zeigt z.B. die Zeichnung Sterbender Krieger (Abb. 3) den Moment des plötzlichen Todes. In die Brust getroffen fällt der dargestellte Soldat nach hinten. Mit scharfen kantigen Strichen wird er in die Diagonale gebannt. Der Arm ist expressiv nach oben ausgestreckt, das Gesicht leidvoll zu einer Fratze verzogen.
Neben den zahlreichen Zeichnungen von Kriegslandschaften und Kameraden entstehen auch einzelne Selbstbildnisse. Auf einer Feldpostkarte41 an die Freundin Jakob zeichnet sich Dix im März 1916 nachdenklich-sorgenvoll im Unterstand (Abb. 4).42
Der Kopf ist auf die rechte Hand gestützt - dies freilich in Anlehnung an den Melancholie-Gestus Dürers.43 Die Augen sind nur halb geöffnet, die Brauen spitz nach oben gezogen und die Stirn ist leicht in Falten gelegt. Seine linke Hand liegt auf einem Blatt Papier vor ihm, umgeben von einzelnen unidentifizierbaren Gegenständen. Dix hält sein Spiegelbild unmittelbar fest „ohne Deformationen aus Phantasie.“44 Plastische Schraffuren und runde, weiche, teilweise auch fließende Formen kennzeichnen die Graphitzeichnung. Nur das Wesentliche wird festgehalten und auf engstem Raum (man bedenke, dass die Postkarte nur ca. 14 x 9 cm misst) gekonnt entfaltet. Wenige Monate später schreibt Dix an Helene Jakob: „Hoffen wir, daß bald Friede wird!“45
Ein weiteres Selbstbildnis entsteht 1917 an der Ostfront.46 In diesem Selbstbildnis mit (Schild)mütze47 (Abb. 5) zeigt sich Dix mit ähnlich markanten und festen Zügen wie in seinem Selbstbildnis als Mars. Insgesamt ist die Komposition nun jedoch ruhiger. Sie strebt eher vertikal nach unten und nicht strahlenförmig auseinander, so dass das Bild keine derart explosive Sprengkraft in sich trägt wie das vor dem Kriegseinsatz entstandene Selbstporträt. Die Kreide wird größtenteils mit der Längsseite angesetzt. Breite Striche entstehen, die sich zu scharfkantigen, zum Teil kubistischen Formen fügen. Dabei geht die Abstraktion jedoch nicht so weit, dass eine Ähnlichkeit mit dem Porträtierten ausbleibt. Die Zeichnung verdeutlicht eine innere Einkehr, eine Rückbesinnung auf das eigene Ich. Insbesondere die senkrechte Strichführung und die eigentümliche Verschattung der Augen unterstützen diesen Ausdruck einer „Verschlossenheit nach Außen.“48
Der Wandel der Selbstsicht
Das vor dem Kriegseinsatz entstandene Selbstbildnis als Mars zeigt eine hochgemute Identifikation mit dem Kriegsgott, also dem Krieg an sich. Dem Betrachter strahlen „dionysischer Vitalismus“49 und ein kriegslüsterner Wille nach Zerstörung und Veränderung der bisherigen Welt entgegen. Das infernale Chaos, in das die Welt hier versetzt ist, ist nur schwer zu bändigen, seine Eigendynamik nur schwer aufzuhalten. Vergleicht man nun diese Einstellung zum Krieg mit der, die in den späteren Kriegszeichnungen zum Vorschein kommt, so fällt ein deutlicher Wandel auf. Mit dem aktiven Eintreten in das Kampfgeschehen wird das wahre Antlitz des Krieges sichtbar. Jedes Blatt wird zum Dokument steter Augenzeugenschaft und zeugt dabei zudem von „moralischer Neutralität“.50 Die Selbstbildnisse, die während der Kriegsjahre aus der „Auseinandersetzung des Künstlers mit seiner Existenz“51 entstehen, zeigen zunehmend ein Insichgehen und werden auch der Form nach ruhiger und nachdenklicher. Im Vergleich zum Selbstbildnis von 1915 fehlen hier die enthusiastische, optimistisch-martialische Haltung und die selbstbewusste Emporhebung des Ichs.
Wie Dietrich Schubert schreibt, brach „ein erlebnisgieriger Dix“ „in den Krieg“ auf, „vor Reims 1916 wünscht er sich Frieden; den Krieg verlassen hat ein völlig desillusionierter Dix, erschüttert durch das „Tierische“, „Viehmäßige im Menschen“.52 Die anfängliche unbändige Kriegsbegierde und die stürmische Sensationslust weichen letztlich sorgenvoller, teilweise auch kritischer Haltung und distanzierter Ernüchterung.
Die hier besprochenen Werke markieren den Beginn der engen Verbindung zwischen Otto Dix und dem Thema Krieg, das sich wie ein roter Faden durch das Leben des Künstlers zieht und sein weiteres Schaffen bestimmt.53 Wie kaum ein anderer Künstler seiner Zeit erlebte und verfolgte Dix den Krieg und wurde von ihm nachhaltig geprägt. Die Konfrontation mit dem Kriegsgeschehen veränderte dabei nicht nur seine anfängliche Vorstellung vom Krieg, sondern bewirkte zugleich eine intensive Auseinandersetzung des Künstlers mit dem eigenen Ich. Insofern tragen die Selbstbildnisse, die vor und während des Kriegseinsatzes entstanden sind und diese Reflektion der Selbstsicht widerspiegeln, dazu bei, die Persönlichkeit und das spätere Schaffen des Künstlers besser zu verstehen: Grund genug, diesen frühen (Kriegs-)Werken im Dixschen Œuvre mehr Beachtung zu schenken.
- Abb. 1 | Schmidt, Diether: Ich war, ich bin, ich werde sein! - Selbstbildnisse deutscher Künstler des 20. Jahrhunderts, Berlin 1968, Tafel 13 (Angaben gem. LÖFFLER 1981; Bild Nr. 1/1915 im Œuvre-Anhang).
- Abb. 2 |RÜDIGER 1991, S. 51.
- Abb. 3 | CONZELMANN 1983, S. 89 (Datierung und Provenienzangabe bei
- EBERLE 1989, S. 43).
- Abb. 4 | RÜDIGER 1991, S. 70.
- Abb. 5 | CONZELMANN 1983, S. 79 (Datierung und Provenienzangabe bei: SCHUBERT 1996, S. 161).
- Kunsthalle Krems: Otto Dix – zwischen Paradies und Untergang, Ausstellung vom 15. März bis 12. Juli 2009. ↩
- Galerie Nierendorf: Otto Dix – Aus dem graphischen Werk, Ausstellung vom 24. Oktober 2008 bis 17. April 2009; vgl. Kunstblätter der Galerie Nierendorf, Bd. 84, Berlin 2008. ↩
- Zum Frühwerk vgl. Dix avant Dix. Das Jugend- und Frühwerk 1903-1914, Ausstellungskatalog. Gera/Albstadt 2000/2001, hg. v. Ulrike Lorenz. Jena 2000. ↩
- Tomaschke, Ivana: „Otto Dix – Selbstbildnis als Mars“, in: Dresdner Kunstblätter, 10/12 (1966), S. 185-187. ↩
- Rüdiger, Ulrike: Grüße aus dem Krieg – Die Feldpostkarten der Otto-Dix-Sammlung in der Kunstgalerie Gera. Gera 1991. ↩
- Lorenz, Ulrike: Otto Dix. Das Werkverzeichnis der Zeichnungen und Pastelle, 8 Bde, hier Bd. 1 zum Jugend- und Frühwerk. Weimar 2003. ↩
- So z.B. auf den Zyklus Der Krieg von 1924 oder auf das Kriegstriptychon von 1932. ↩
- Otto Dix in seinem „Dienstbüchlein“: Vgl. Schubert, Dietrich: Otto Dix mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 2005 (1980), S. 23. ↩
- Vgl. hierzu Löffler, Fritz: Otto Dix und der Krieg. Leipzig 1986, S. 5; sowie Schubert, Dietrich: „Otto Dix und der Krieg“, in: Harth, Dietrich/ Schubert, Dietrich/ Schmidt, Ronald Michael (Hg.): Pazifismus zwischen den Weltkriegen – Deutsche Schriftsteller und Künstler gegen den Krieg und Militarismus 1918-1933. Heidelberg 1985, S. 185-202, hier S. 188. ↩
- Vgl. SCHUBERT 2005, S. 11. Löffler und auch Schubert in seinen früheren Texten nennen wohl fälschlicherweise 1909 als Datum für den Studienbeginn; siehe Löffler, Fritz: Otto Dix – Leben und Werk. Dresden 1977, S. 11; sowie Schubert, Dietrich: „Rezeptions- und Stilpluralismus in den frühen Selbstbildnissen des Otto Dix“, in: Hager, Werner/ Knopp, Norbert (Hg.): Beiträge zum Problem des Stilpluralismus. München 1977, S. 203-224, hier S. 205. ↩
- Vgl. hierzu SCHUBERT 2005, S. 9ff. ↩
- SCHUBERT 1977, S. 204, S. 218. ↩
- Zu Ursachen und Hintergründen des Ersten Weltkrieges vgl. u. a.: Mommsen, Wolfgang J.: „Der Erste Weltkrieg und die Krise Europas“, in: Hirschfeld, Gerhard/ Krumeich, Gerd/ Renz, Irina (Hg.): „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen 1993, S. 25-40, hier S. 29f. ↩
- Vgl. LÖFFLER 1986, S. 6. ↩
- Otto Dix im Gespräch mit Hans Kinkel, Stuttgarter Zeitung vom 30. 11. 1961; zit. nach SCHUBERT 2005, S. 25. ↩
- Otto Dix im Dezember 1963, Schallplatte „Otto Dix spricht über Kunst, Religion, Krieg“, Erker-Verlag St. Gallen 1963; zit. nach ebd., S. 25. ↩
- Öl auf Leinwand, 80,5 x 65 cm, bez. rechts unten, mit Jahreszahl „1915“. Seit 1949 befindet sich das Gemälde im Besitz des „Hauses der Heimat Freital“ (heute: Städtische Sammlung Freital). 1965 wurde es als Dauerleihgabe der Dresdner Gemäldegalerie Neue Meister übergeben. Seit 1991 ist es wieder in Freital ausgestellt. ↩
- TOMASCHKE 1966, S. 185. In diesem Zusammenhang nennt die Autorin an gleicher Stelle als vermeintlich ursprünglichen Titel des Gemäldes Fantasie 1914. ↩
- Schmidt, Diether: Ich war, ich bin, ich werde sein! Selbstbildnisse deutscher Künstler des 20. Jahrhunderts. Berlin 1968, S. 43. ↩
- Ähnlich gestaltet ist der Helm im Selbstbildnis mit Artillerie-Helm von 1914, Öl auf Papier. Siehe Conzelmann, Otto: Der andere Dix. Sein Bild vom Menschen und vom Krieg. Stuttgart 1983, S. 71. ↩
- Zu den Manifesten der Futuristen siehe: Harrison, Charles/ Wood, Paul (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert - Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, 2 Bde, hier Bd. 1: 1895-1941. Ostfildern-Ruit 1998, S. 188-191. ↩
- Dort hatte Dix bereits 1912 eine van-Gogh-Ausstellung besucht, die ihn nachhaltig beeinflusste: siehe Schwarz, Birgit: „Von Klinger zu Meidner – zwischen van Gogh und Guhr: Dix 1910 bis 1914“, in: DIX 2000, S. 133-143. ↩
- Näheres zu den Futuristen und ihren Gestaltungsprinzipien bei CONZELMANN 1983, S. 62f. Zu Bezügen und Gegensätzen zwischen Futuristen, Kubisten und Expressionisten siehe: Eberle, Matthias: Der Weltkrieg und die Künstler der Weimarer Republik – Dix, Grosz, Beckmann, Schlemmer. Stuttgart/Zürich 1989, S. 13f. ↩
- SCHUBERT 1977, S. 212. ↩
- Auf den Aspekt des Chaos „als Voraussetzung und Mittel neuer Möglichkeiten der Kombination, der Neuzusammensetzung der Welt“ weist auch Eberle hin: EBERLE 1989, S. 32. ↩
- Zur Beziehung Dix – Nietzsche siehe CONZELMANN 1983, S. 211ff., insbesondere S. 231f. sowie SCHUBERT 2005, S. 24f. ↩
- Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883-1885), in: ders.: Nietzsche Werke - Kritische Gesamtausgabe, 9 Abt., hier Abt. 6 Bd. 1, hg. Colli, Giorgio/ Montinari, Mazzino. Berlin 1968, siehe hierzu: Zarathustras Vorrede, 5. Abs., S. 13. ↩
- Einer ähnlichen Apotheose begegnen wir im Übrigen auch noch nach dem Krieg im Dixschen Holzschnitt Ich bin das A und O von 1919: Vgl. LÖFFLER 1986, S. 7. ↩
- SCHUBERT 2005, S. 25. ↩
- Schmidt, Diether: Otto Dix im Selbstbildnis. Berlin 1981, S. 37. ↩
- Vgl. ausführlich LÖFFLER 1986, S. 7ff., S. 14 und SCHUBERT 2005, S. 22ff. ↩
- Eine detaillierte chronologische Übersicht über die Einsatzorte von Dix findet sich bei RÜDIGER 1991, S. 22f. ↩
- Vgl. hierzu ebd., S. 9. Zur Esperanto-Anrede „kara samideanino“, die Helene Jakob selbst mit „liebe Gesinnungsgenossin“ übersetzte, sowie zur Beziehung zwischen Dix und Jakob siehe genauer S. 8. ↩
- Dix 1948 an Hans Kinkel; zit. nach SCHUBERT 2005 aus den Vorbemerkungen, S. 7. ↩
- Zusammen mit Gouachen; vgl. CONZELMANN 1983, S. 83 sowie LORENZ 2003. ↩
- So auch Otto Griebel, ein Mitstudent von Dix in Dresden: vgl. LÖFFLER 1986, S. 9. ↩
- Zur stilistischen Entwicklung und den davon abhängigen Datierungen siehe insbesondere Schubert, Dietrich: „Ein unbekanntes Kriegsbild von Otto Dix – zur Frage der Abfolge seiner Kriegsarbeiten 1915-1918“, in: Jahrbuch der Berliner Museen, 38 (1996), S. 151-168. ↩
- Vgl. EBERLE 1989, S. 39 oben. ↩
- Später wird Dix dieses Thema in vielleicht weitaus erschreckender Präzision, die im Chaos des Grabenkrieges so nicht geleistet werden konnte, in seinem Radierzyklus von 1924 wiederaufnehmen. Vgl. hierzu u.a. Schubert, Dietrich: Otto Dix – Der Krieg. 50 Radierungen von 1924. Marburg 2002. ↩
- Zit. nach RÜDIGER 1991, S. 13. ↩
- Zusammen mit anderen Feldpostkarten der Otto-Dix-Sammlung in der Geraer Kunstgalerie publiziert von RÜDIGER 1991. ↩
- Conzelmann datiert die Zeichnung fälschlicherweise auf 1917, eventuell verleitet durch eine Angabe auf der Postkartenrückseite, die als 1917 gelesen werden kann (von Rüdiger angegeben, S. 70: „verso bez.: 20. III. (von fremder Hand): 1917?“): Vgl. CONZELMANN 1983, S. 78. Allerdings ist allein schon aufgrund der eher runden Formsprache eine wesentlich frühere Datierung um 1916 anzunehmen, wie auch Rüdiger sie angibt (S. 70 f.). Vgl. dazu ebenfalls SCHUBERT 1996, S. 159. ↩
- Zu Parallelen zwischen dem Dixschen Selbstbildnis und einer Zeichnung Dürers von 1492 vgl. SCHUBERT 1977, S. 218. Rüdiger weist darauf hin, dass Helene Jakob Dix einige Dürer-Reproduktionen an die Front sandte, darunter vielleicht auch das Dürersche Selbstbildnis um 1492: vgl. RÜDIGER 1991, S. 21, Endnote 23. ↩
- SCHUBERT 1996, S. 159. ↩
- Feldpostkarte vom 6. Juni 1916, die den MG-Stand zeigt, Fort de la Pombelle/ Reims; zit. nach ebd., S. 159. ↩
- Datierung ebd., S. 161. Auch hier datiert Conzelmann (wohl erneut fälschlicherweise, berücksichtigt man die eher scharfkantig-eckige Formsprache) wieder anders, nämlich auf 1916: Vgl. CONZELMANN 1983, S. 79. ↩
- Bei Schubert deutend als Selbstporträt mit geschlossenen Augen bezeichnet: SCHUBERT 1996, S. 161. ↩
- Ebd., S. 161. ↩
- SCHUBERT 2005, S. 24. ↩
- SCHUBERT 1985, S. 193. Annegret Jürgens-Kirchhoff hingegen schreibt den Zeichnungen eine anklagende und abschreckende Wirkung zu, die die Graphiken zu Antikriegsbildern werden lässt: vgl. Jürgens-Kirchhoff, Annegret: Schreckensbilder – Krieg und Kunst im 20. Jahrhundert. Berlin 1993, S. 234f. ↩
- SCHUBERT 1977, S. 204, 218. ↩
- SCHUBERT 1985, S. 192. ↩
- Man denke hier an die Reihe von „kriegsbezogenen“ Werken, wie unter anderen: Der Schützengraben (1920-23), Die Kriegskrüppel (1920), Radierzyklus Der Krieg (1924), Triptychon Der Krieg (1929-32), Flandern (1934), Selbst als Kriegsgefangener (1947), Krieg und Frieden (1960). ↩
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