Fuit autem triplex ratio institutionis imaginum in Ecclesia. Primo ad instructionem rudium qui eis quasi quibusdam libris edocentur. Secundo ut incarnationis mysterium et sanctorum exempla magis in memoria nostra essent, dum quotidie oculis repraesentantur. Tertio ad exercitandum devotionis affectum qui ex visis efficacius incitantur quam auditis.1
Thomas von Aquin beschreibt die Funktion – die ratio – von Bildern in der Kirche als eine dreifache: Zum einen dienten Bilder den Menschen, die nicht lesen konnten, als Ersatz für Bücher; so konnten sie biblische Texte verstehen. Zum anderen hatten sakrale Bilder eine Erinnerungsfunktion. Wenn die Heiligen dem Betrachter immer wieder vor Augen geführt wurden, blieben sie besser im Gedächtnis. Die dritte Funktion lag in der Devotion begründet. Gemalte Bilder eigneten sich besser als durch das Hören Imaginiertes, um ins Gebet einzusteigen; das Bild sollte Affekte der Devotion auslösen.
Im Folgenden gehe ich auf Thomas von Aquins dritte ratio ein. Es stellt sich die Frage, wie ein spätmittelalterliches, sakrales Bild wie die „Anbetung der Hirten“ von Hugo van der Goes (Abb. 1) beschaffen ist, damit es im Betenden die Bereitschaft zur Devotion erzeugt und befördert.
Über den Entstehungszusammenhang oder den Auftraggeber des Bildes ist nichts bekannt. In der bisherigen Forschung wurden hauptsächlich das ungewöhnliche Format (97 × 245 cm)2 und die Komposition des Bildes, seine Funktion, Fragen der Datierung und seine Einordnung in das Gesamtwerk van der Goes‘ diskutiert.3
Strittig sind aber auch Fragen, die das Dargestellte betreffen: Was genau meint Otto Pächt, wenn er bei der „Anbetung der Hirten“ von der „Emotion eines Künstlers“4 spricht? Welche Vorstellung von Realismus haben Hans Belting und Christiane Kruse, wenn sie sagen, „(d)ie Figuren im Bildinneren sind dagegen in der Modellierung so herabgestimmt, daß sie eine andere Realität besetzen“?5 Wieso verbietet es sich nach Belting und Kruse, in van der Goes‘ Malerei „bei vielen seiner Figuren (…) von ‚Typen‘ zu sprechen“?6 Was genau sind die „individuelle(n) Züge“,7 die Friedrich Winkler bei den Figuren der „Anbetung der Hirten“ zu erkennen glaubt?
Problematisch bei den bisherigen Forschungsergebnissen ist, dass die Begriffe ‚Emotionalität‘, ‚Realismus‘, ‚Individuum‘ und ‚Typus‘ zu ungenau oder in einem für den zu behandelnden Gegenstand zu modernen Sinn verwendet werden. Dargestellte Emotionen werden als unmittelbare Gefühlsäußerungen eingeordnet. Es ist allerdings fraglich, ob Emotionen im Hinblick auf ein spätmittelalterliches Bild auf eine so moderne Art gelesen werden sollten, gleiches gilt für Individualität und Realismus: Wie funktionieren Emotionen im Spätmittelalter? Wie werden Realismen in der altniederländischen Malerei verwendet? Wann und warum kommt Individualität zum Einsatz und inwieweit grenzt sie sich vom ‚Typus‘ ab?
Altniederländische Malerei im Fokus der Historischen Emotionsforschung
Diesen Fragen geht die Historische Emotionsforschung nach. Sie entfaltet sich in mehreren Ansätzen, von denen für die Kunstgeschichte nicht alle relevant sind. Die Kernthese ist jedoch, dass Emotionsäußerungen nicht als direkte Gefühlsäußerung aufgefasst werden, sondern eine Botschaft vermitteln, einer bekannten Systematik folgen und gezielt verwendet werden, um bestimmte Aussagen zu treffen.8 Wie lässt sich die Idee einer geregelten emotionalen Rhetorik im Hinblick auf die altniederländische Malerei begründen? Dazu muss gefragt werden, was die Funktion dieser Bilder gewesen ist. Neben der prestigemotivierten Selbstdarstellung in Stifter-, Devotions- und autonomen Portraits9 zeigt die altniederländische Malerei hauptsächlich christliche Motive und ist an religiöse Zwecke gebunden. Altar- und Andachtsbilder sowie Devotionsportraits gelten dem Betenden als Aufforderung zum Gebet und sind ihm ein Hilfsmittel, um den Heiligen näher zu kommen.10 Der Gedanke, dass Bilder einen positiven Einfluss auf das Gebet haben könnten, erklärt sich durch das damals geläufige Modell der stufenartigen Zusammensetzung der Passionsmeditation: Im ersten Schritt ist der devote Betende zerknirscht über seine Sünden (contritio). Darauf folgt die compassio, also das Mitleiden mit Christus, und schließlich die imitatio, die sinnliche und körperliche Nachahmung des Leides Christi. Im Idealfall gelangt man dann zur visio, zur Gottesschau. Das Bild wird also einerseits als Medium verwendet, das zur Passionsmeditation anregt und das Gebet intensiviert. Andererseits werden im Bild die reflexiven Strukturen der Meditation erst entwickelt, es ist also ein reziproker Prozess.11
Anhand von Rogier van der Weydens „Kreuzabnahme“ (Abb. 2) wird deutlich, wie Bilder gemacht sein müssen, damit sie zum Gebet anregen und die Devotion unterstützen: Während Maria Magdalena sich in ihrer gebeugten Trauerhaltung noch auf der Stufe der compassio befindet, ist die in Ohnmacht sinkende Maria bereits dadurch, dass sie in ihrer Haltung Christus nachahmt, bei der imitatio. Ihre halb geöffneten Augen deuten auf die visio, die Schau der Auferstehung Christi, hin.12 Auffällig ist, dass das Stufenkonzept der Meditation auf die Figuren verteilt ist, denn sie zeigen unterschiedliche emotionale Zustände. Da ihre Emotionen in das Stufenmodell eingeordnet werden können, sind es vorbildliche Emotionen,13 das heißt, die einzelnen Stufen und die daran geknüpften emotionalen Zustände werden als Gebetsanleitung im Gemälde veranschaulicht. Martin Büchsel und Johanna Scheel haben festgestellt, dass Emotionen nur für Heilige sind.14 Stifter dagegen, die einen Platz im Bild einnehmen, sind emotionslos, sie sind reglos und verharren in Gebetshaltung.15 Das liegt zum einen daran, dass sie nicht in die Narration, wie beispielsweise die Geburt Christi im „Portinari-Altar“ (Abb. 3), eingebunden sind. Die Narration diktiert den dargestellten Figuren ihre Emotionen, der Stifter hat keine schriftliche Entsprechung und somit ein emotionsloses Gesicht.16 Zum anderen ist der Stifter ohne erkennbare Emotion dargestellt, weil er nach Scheel sich selbst und die Beschäftigung mit sich selbst als Ausgangspunkt für das Gebet braucht. Die eigene Emotionslosigkeit im Kontrast zu einer emotionsgeladenen Szenerie wie der Kreuzabnahme oder der Geburt Christi findet ihren Ursprung ebenfalls in der stufenartigen Passionsmeditation: Die Ansicht der eigenen Person veranlasst dazu, über sich selbst und die eigenen Sünden nachzudenken (contritio) und ist somit der ideale Ausgangspunkt, um das Gebet zu beginnen.17 Im Mittelalter ist Selbstreflexion nicht als moderne Auseinandersetzung eines Individuums zu denken, sondern als ein Weg der Gotteserkenntnis; der Mensch sieht sich als Abbild Gottes. Selbsterkenntnis entspricht Gotteserkenntnis und ist mithin das Ziel jeder Meditation.18
Es lässt sich festhalten, dass durch die Meditations- und Gebetspraxis ein Repertoire an definierten emotionalen Vorbildern19 auf biblischen Texten fußend entwickelt wurde. Doch wie ist eine Emotion im Mittelalter zu begreifen? Als erstes beschreibt Paulus Emotionen, indem er sie als Gegenstück zur göttlichen Liebe, der Agape, konstituiert: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. (…) Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit.“20 Agape meint die Hinwendung zu Gott und ist der Emotion, also der Abwendung von Gott, entgegengesetzt. Augustinus führt diese Überlegungen innerhalb seiner Theorie der caritas weiter: Emotionalität existiert in der Abwendung von oder Zuwendung zu Gott. Während für Paulus Emotionalität das Gegenteil von Agape ist, schlagen sich für Augustinus sowohl gute als auch schlechte Eigenschaften und Handlungen, also Tugenden und Laster, in Emotionen nieder.21 Die caritas beziehungsweise Agape ist also ein Gradmesser, mit dem die Nähe oder die Ferne zu Gott angezeigt wird.22 Diese Abstufungen spiegeln sich in altniederländischen Andachtsbildern wie beispielsweise der „Madrider Kreuzabnahme“ wieder: „Die Heiligen fungieren als die Vorbilder, die die geforderten emotionalen Zustände der Reue, des Mitleids und den Liebesbund mit Christus verkörpern.“23
Emotionen in der bildenden Kunst beziehen sich somit auf den ersten Blick auf schriftliche Quellen. Sie bedeuten Hinwendung zu Gott oder Abwendung von Gott. Da die Funktion eines spätmittelalterlichen religiösen Bildes in der Aufforderung zur und Unterstützung der Passionsmeditation liegt, sind die dargestellten Emotionen vorbildhaft für den Betenden. Der Devote kann dadurch seinen eigenen Status bezüglich der Agape wiederfinden24 und verändern, und somit ist das spätmittelalterliche religiöse Bild als systematische Rhetorik zu verstehen.
Innerhalb dieser Rhetorik lassen sich auch Realismen verorten. Realistisches Vokabular findet seinen Ursprung im Zweck der Andachtsbilder, als Mittel zur Vergegenwärtigung der Heiligen.25 Es ist wie Emotionen zur Unterstützung der Passionsmeditation konventionalisiert worden. Das Visualisierungsverlangen der Devotion, die immer stärkere Gewichtung des Bildes beim Gebet, bedingt das Hervortreten von Realismen.26 Genau wie Emotionen haben Realismen einen semantischen Wert und tauchen dort auf, wo Botschaften übermittelt werden sollen. Dort, wo die Aussage im Bild stattfindet, bei den Figuren, die durch ihre vorbildhafte Emotion eine Stufe der Agape visualisieren, lässt sich von Realismus sprechen. Hier muss der Blick des Betenden hängen bleiben, damit ihm der Sinn und die Aussage einer Figur, zum Beispiel der mitleidenden Maria Magdalena bei Rogier van der Weyden bewusst werden:27 „Die Botschaft sucht die Heftigkeit und damit die Glaubwürdigkeit des natürlichen Ausdrucks.“28
Abschließend bleibt die Frage nach der Individualität in Abgrenzung zum ‚Typus‘ zu diskutieren. Gerade wenn Realismen verwendet werden, ist man geneigt, Individualität unterstellen zu wollen. Aber auch hier muss man wie bei Emotionen die Frage stellen, welche Vorstellung von Individualität im Spätmittelalter gängig war. Eine realistische Darstellung allein kann jedenfalls nicht ausschlaggebend sein, wie Büchsel und Dagmar Schmengler nachgewiesen haben: Zwar ist das Naturstudium notwendig,29 „(a)ber dieses führte keineswegs dazu, dass Individuen dargestellt werden. Die Formelemente werden vielmehr nach einem Baukastensystem eingesetzt.“30
Spätmittelalterliche Individualität gibt es in zwei Formen. Erstens ist der paradiesische Körper makellos und frei von Sünde. Eine Individualisierung wäre also bei Fehlerfreiheit nicht notwendig und würde nichts anderes als ein Fehler im Sinne einer Abweichung vom göttlichen Willen (Gebrechen, Krankheit) bedeuten können.31 Die zweite Variante von Individualität drückt sich gerade durch körperliche Gebrechen und sichtbare Anzeichen von Krankheit aus. Äußerliche Abweichungen vom makellosen Leib stehen für die Willensstärke und diese ist in Zusammenhang mit der imitatio, also der Konformität mit Christus, zu verstehen.32 Wenn man davon ausgeht, dass Individualität nur in diesen beiden Fällen zum Vorschein kommen kann, sind konsequenterweise alles andere Typen. Ein ‚Typus‘ oder ein Schema zeichnet sich dadurch aus, dass es einerseits ein Abstraktionsprodukt ist. Das bedeutet, dass es eine gemeinsame Schnittmenge vieler einzelner Wahrnehmungen gibt. Andererseits ist ein Schema oder ein ‚Typus‘ gleichzeitig eine Voraussetzung dafür, dass etwas überhaupt sinnfällig identifiziert werden kann.33 Die Vorbildhaftigkeit, die charakteristisch für spätmittelalterliche Emotionsdarstellungen ist, würde diese Überlegung bestätigen: Wenn etwas vorbildlich sein soll, dann muss es in dieser Eigenschaft wiedererkannt werden, das bedeutet ein Schema oder ‚Typus‘ mit bestimmten Merkmalen ist notwendig.
Hugo van der Goes: die „Anbetung der Hirten“
Die folgenden Überlegungen beruhen auf der Annahme, dass die „Anbetung der Hirten“ ein Bild ist, das aufgrund seines Motivs für sakrale Zwecke als öffentliches Altarbild oder privates Andachtsbild genutzt wurde.34
Gezeigt wird die Geburt Christi nach dem Evangelisten Lukas:
Als sie dort waren (in Bethlehem), kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn (…) und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.35
Das entspricht der Darstellung van der Goes‘. Zu sehen ist ein Stall, der sich nach links und rechts öffnet. In der Mitte befinden sich Maria und das Jesuskind. Maria ist in ein langes, dunkelblaues Gewand gehüllt und nimmt eine leicht gebeugte, dem Betrachter zugewandte, durch den Faltenwurf aber nicht ganz eindeutige Position ein. Ihre Hände sind gefaltet und auf die Krippe gerichtet, ihr Blick ist gesenkt. Das Kind hat eine zarte und fast schon durchscheinend helle Haut, es liegt in der Krippe auf dem Rücken. Die Arme sind ausgebreitet und es blickt den Betrachter direkt an. Rechts daneben kniet Josef in einem rötlichen Gewand, er hat die Hände gefaltet und den Blick gesenkt. Um die heilige Familie haben sich zehn Engel in Gebetshaltung eingefunden, einige von ihnen haben sich dicht an die Krippe gedrängt, andere verharren in der Schwebe. Hinter Josef finden sich Ochs und Esel ein. Ab diesem Moment geht im Text von den Figuren der Heiligen Familie keine Handlung mehr aus, daher sind sie im Bild in einem ruhigen und passiven Zustand zu sehen. Interessanter ist hingegen, dass sowohl van der Goes, als auch der Evangelist Lukas in seinem Text die Rolle der Hirten hervorheben:
In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde. Da trat der Engel des Herrn zu ihnen und der Glanz des Herrn umstrahlte sie. Sie fürchteten sich sehr, der Engel aber sagte zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude (…) Heute ist euch (…) der Retter geboren; (…) Ihr werdet ein Kind finden, das (…) in einer Krippe liegt. (…) Als die Engel sie verlassen hatten (…) sagten die Hirten zueinander: Kommt, wir gehen nach Bethlehem, um das Ereignis zu sehen (…) So eilten sie hin und fanden Maria und Josef und das Kind (…).36
Der biblischen Erzählung nach sind es die Hirten, die emotional sind und Furcht empfinden. Darüber hinaus sind sie die aktiven Handlungsträger, denn sie eilen in ihrer Aufregung zum Stall und finden die Heilige Familie vor, die sich ruhig und passiv verhält. Im Bild eilen von links zwei Hirten in den Stall. Der Rechte von ihnen kniet bereits, sein rechter Unterarm ist auf das Knie aufgestützt, seine linke Hand liegt auf der Brust, der Blick ist auf das Kind gerichtet. Der zweite Hirte ist noch im Laufschritt, beim Betreten des Stalls reißt er sich die Kapuze vom Kopf, den Hirtenstab hat er unter den Arm geklemmt. Sein Mund ist halb geöffnet, er scheint außer Atem zu sein.
Der Hintergrund auf der rechten Seite zeigt die zwei Hirten in dem Moment kurz vor dem Betreten des Stalls. Sie sind mit ihren Schafen auf dem Feld, als der Engel ihnen die Nachricht von der Geburt Christi verkündet. Geblendet von der Helligkeit des Engels halten beide den Arm vor die Augen und sind ehrfürchtig in die Knie gesunken. Im linken Hintergrund ist ein Haus zu sehen, worüber sich zwei männliche Halbfiguren erheben. Sie scheinen zu musizieren, der eine von ihnen spielt eine Art Flöte, während der andere dazu klatscht. In beiden Hintergrundszenen ist der Himmel dunkel und es ist Nacht. Die Hirten empfangen die Botschaft von dem Verkündigungsengel, umkreisen den Stall von hinten und betreten von der anderen Seite die Bühne im Laufschritt.37 Die Bewegung, die von ihnen ausgeht, lenkt den Blick über Maria hin zu der Krippe, in der das Kind liegt, beide Figuren strahlen Licht aus.
Der Vordergrund zeichnet sich durch eine Besonderheit aus: Die Ecken sind jeweils von einer männlichen, in Samt und Brokat gekleideten Halbfigur flankiert, die den Vorhang aufzieht, wodurch das dargestellte Geschehen zu einer Theaterinszenierung wird. Der Bühnencharakter wird zusätzlich durch die links und rechts vorne ins Bild ragende, niedrige, mit Pflanzen bewachsene Mauer und das nicht vollständig abgebildete Ährenbündel verstärkt. Während die linke Halbfigur das Geschehen beobachtet, schaut die rechte den Betrachter, also das Publikum, an. Der Vorhang ist mit Ringen an einer hölzernen Stange befestigt, die entlang der oberen Bildkante in starkem Relief aufgesetzt ist.38 Die beiden Halbfiguren stellen eine Verbindung zwischen Publikum und Bühne her, indem sie sich scheinbar im Betrachterraum befinden, sich mit Redegesten an den Betrachter wenden und ihn auf das Spiel hinter ihnen aufmerksam machen.39 Sowohl in der älteren als auch in der neueren Forschungsliteratur ist man sich darüber einig, dass die beiden Männer im Vordergrund als Propheten zu betrachten sind. Sie enthüllen das gezeigte Ereignis, das heißt, sie öffnen den Vorhang und offenbaren die Ankunft des Messias als Geburt Christi. Der zurückgeschlagene Vorhang zeigt an, dass sich die messianische Weissagung in dem von Engeln und Hirten verehrten Kind erfüllt hat.40 Das Alte Testament, dem die Propheten zugehören, sah die Wahrheit metaphorisch nur unter einem Schleier oder einer Hülle, was hier im Bild dem Vorhang entspricht, wie Paulus im 2. Korintherbrief ausführt:
(…) Bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem Alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird, und es bleibt verhüllt, daß er in Christus ein Ende nimmt. (…) Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt.41
Soweit der narrative Zusammenhang. Als nächstes soll analysiert werden, wie sich die Figuren mit der Agape, also dem Grad der Hinwendung zu Gott, die für die vorbildhaft dargestellte Emotion verantwortlich ist, in Verbindung bringen lassen. Zum einen ist diese Hinwendung zu Gott in der „Anbetung der Hirten“ wörtlich umgesetzt: Der Fluchtpunkt liegt ein Stück oberhalb des Christuskindes, dem fleischgewordenen Wort Gottes, alle anderen Figuren positionieren sich in unterschiedlichen Abständen um es herum und richten ihre Bewegungen und ihre Gesten nach ihm aus. Sie wenden sich Gott hin.
Am weitesten entfernt stehen die alttestamentarischen Propheten, da sie unterhalb der gezeigten Szenerie stehen. Da sie sich mit Redegesten an den Betrachter wenden, um das zu enthüllen, was sie vorhergesagt haben, könnte ihre Funktion darin liegen, die erste Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Bild zu lenken. Die Hirten sind kompositorisch ein Stück näher an Christus herangerückt, weil sie sich aufgrund der Narration in demselben Bildbereich wie Christus befinden. Bei dem Bewegungsablauf im Bild ist die Hin-Wendung zu Gott wörtlich umgesetzt, da die Hirten ja tatsächlich nach der Verkündigung hinter dem Stall vorbeilaufen und ihn von der linken Seite betreten. Nach den Propheten sind sie durch ihre expressiven, dem Lukas-Evangelium entnommenen Gesten sowie ihrer Mimik die zweite Partei, die die Aufmerksamkeit des Betrachters sicherstellen soll. Wenn Propheten und Hirten den Blick des Betrachters auf das Gemälde ziehen sollen, könnte man sie als emotionale Vorbilder am Beginn der Gebetsmeditation, der contritio, sehen, deren Voraussetzung ist, dass der Betende zur Ruhe kommt und seine Gedanken Gott zuwendet, um danach über seine eigenen Verfehlungen nachzudenken. Die aufgewühlte Emotionalität der Hirten ist insofern vorbildhaft, als sie dem Betrachter identifikatorisch als Spiegel dient und ihn auffordert, wie die Hirten herbeizueilen, sich Gott zuzuwenden und mit dem Gebet zu beginnen. Propheten und Hirten wirken besonders realistisch, wobei diese hervorhebenden Realismen hier als Mittel dienen, um die Aufmerksamkeit des Bildbetrachters zu erlangen.
Von den Propheten über die Hirten gelangt man nun zu den Engeln, Maria und Josef, die Christus am nächsten stehen. Sie haben sich Gott schon am weitesten zugewandt. Diese Gruppe unterscheidet sich von den anderen Figuren, weil sie in ihrer Kontemplation bereits die nächste Stufe, die Andacht und das Gebet vorlebt. An Christus orientieren sich alle anderen Figuren des Bildes, das Kind blickt den Betrachter direkt an. Dieser solle sich für das Gebet bereit machen, so die Aussage von Propheten, Hirten, Engeln, Maria und Josef. Mit dem direkten Blickkontakt zeigt Christus dem Betrachter, wo er nach dem Ziel des Gebets (visio) suchen soll: in sich selbst. Die Selbsterkenntnis fungiert als Gotteserkenntnis.
Zuletzt ist noch der Frage nachgehen, ob es sich bei dem Figurenschema der „Anbetung der Hirten“ um Individuen oder Typen handelt. Wie wird ikonographisch zitiert? Welche Neuerungen sind auszumachen? Die Darstellung von Propheten ist zu van der Goes‘ Zeiten nichts Unübliches. Im „Genter Altar“ (Abb. 4) tauchen bereits zwei Propheten auf der Werktagsseite auf. Auch van der Goes platziert die Propheten zwar physisch auf der gleichen Fläche wie die dargestellte Szenerie, trotzdem bleibt durch den Bühnencharakter des Bildes die optische Abgrenzung von Propheten und den restlichen Figuren erhalten.42 Der Vorhang im Gemälde ist auch keine Neuschöpfung.43 Allerdings ist die Verbindung beider Motive, also Propheten, die die Vorhänge aufziehen, eine neuartige Zusammenführung.
Die Hirten stehen mit ihrer Lebhaftigkeit und Tölpelhaftigkeit im Kontrast zu den in ruhiger Andacht gezeigten Engeln und Heiligen. Diese Darstellungsart der Hirten ist eine neue Variante eines gängigen Typus, der beispielsweise im etwa 50 Jahre zuvor entstandenen Gemälde „Geburt Christi“ (Abb. 5) von Robert Campin zu sehen ist. Hier sind die Hirten zwar auch im Zentrum des Bildes platziert, aber sie passen sich an die stille Kontemplation der restlichen Figuren an und sind den Heiligen durch Mimik und Gestik schon fast zugehörig. Van der Goes hat seine Darstellungsvariante des Hirtenmotivs bereits im „Portinari-Altar“ vorgebildet. Die Hirten wirken tölpelhaft und grob, der hintere der Dreiergruppe hat den Mund vor Ehrfurcht aufgerissen. Sie unterscheiden sich auffällig von der Heiligen Familie und den Engeln. Wie in dem Berliner Bild sind die Hirten die ersten, die eingetroffen sind, um das Kind anzubeten. In beiden Bildern bildet van der Goes den Moment der Ankunft der Hirten ab. Im „Portinari-Altar“ sinken die Hirten gerade erst nach und nach auf die Knie und falten die Hände zum Gebet. Der vordere kniet beinahe, während der hintere den Anblick noch verarbeiten muss. Mit der „Anbetung der Hirten“ hat van der Goes diesen Moment noch gesteigert, weil durch den Laufschritt und die lebhaften Bewegungen der ankommenden Hirten die Dynamik des Motivs verstärkt wird. Im Gegensatz dazu stehen die Engel und die heilige Familie, sie entsprechen in ihrer stillen Andacht traditionellen Darstellungen,44 wie der Campins. Zwar sind die Gesichter der Engel und Marias im Berliner Gemälde vollwangiger und weniger knochig und eingedrückt als im „Portinari-Altar“,45 abgesehen davon lässt sich keine Neuerung beobachten. Alle drei Geburtsszenen zeigen eine kniende Maria in einem bläulichen Gewand und einen etwas älteren Josef in einem roten Gewand, mal traditionell an der Säule, mal mit Kerze. Das Christuskind selbst ist in allen drei Bildern ähnlich dargestellt, es ist im Zentrum des Interesses und strahlt Licht aus.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die „Anbetung der Hirten“ zwei Neuerungen innerhalb eines bekannten Figurenschemas aufweist: die Verschmelzung des Propheten- und Vorhangmotivs und die Darstellung der Hirten in ihrer Bewegung und Tölpelhaftigkeit. Trotz dieser Neuerungen bleiben die Figuren Typen. Man kann nicht von Individuen sprechen, weil bei der „Anbetung der Hirten“ weder eine negative noch eine positive Individualität festgestellt werden kann. Jedoch ist gerade bei Hirten und Propheten, wo van der Goes neue Ideen umsetzt, die Darstellung um einiges realistischer als bei den traditionellen Figuren. Deshalb ist an dieser Stelle nicht von Individuen, sondern von Realismen zu sprechen, die die Aussage, nämlich die Aufforderung zum Gebet, unterstreichen. Das Bild leitet den devoten Betrachter in seinem Gebet durch die vorbildhaften Emotionen von der contritio, über die imitatio hin zur visio.
- Thomas von Aquin, zitiert nach Büchsel, Martin/ Schmidt, Peter (Hg.): Realität und Projektion. Wirklichkeitsnahe Darstellung in Antike und Mittelalter. Berlin 2005, S. 26. ↩
- Vgl. Belting, Hans/ Kruse, Christiane: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. München 1994, S. 240. ↩
- Katalog der ausgestellten Gemälde des 13.-18. Jahrhunderts, Berlin. Berlin 1975, S. 176-177; BELTING/ KRUSE 1994, S. 117-122 und S. 240; Dhanens, Elisabeth: Hugo van der Goes. Antwerpen 1998, S. 136-162; Eisler, Colin: Masterworks in Berlin. A City’s Paintings Reunited. Painting in the Western World, 1300-1914. Boston u.a. 1996, S. 79; Franke, Susanne: Raum und Realismus. Hugo van der Goes‘ Bildproduktion als Erkenntnisprozess. Frankfurt am Main u.a. 2012, S. 230-247; Friedländer, Max J.: Die Altniederländische Malerei. Hugo van der Goes. Berlin 1926, S. 51-53; Lane, Barbara: „‚Ecce Panis Angelorum‘: The Manger as Altar in Hugo’s Berlin Nativity“. In: The Art Bulletin 57 (Dezember 1975), S. 476-486; Pächt, Otto: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David, hrsg. von Monika Rosenauer, München 1994, S. 196-210; Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und Wesen. Übers. und hrsg. von Jochen Sander und Stephan Kemperdick, Bd.1. Köln 2001, S. 342; Sander, Jochen: Hugo van der Goes. Stilentwicklung und Chronologie. Mainz 1992, S. 226-230 und S. 260-263; Winkler, Friedrich: Das Werk des Hugo van der Goes. Berlin 1964, S. 60-63 und S. 313-314. ↩
- PÄCHT 1994, S. 196. ↩
- BELTING/ KRUSE 1994, S. 122. ↩
- Ebd., S. 227. ↩
- WINKLER 1964, S. 61. ↩
- Büchsel, Martin: „Die Grenzen der Historischen Emotionsforschung. Im Wirrwarr der Zeichen – oder: Was wissen wir von der kulturellen Konditionierung von Emotionen?“. In: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 45 (2011), S. 143-168. ↩
- Scheel, Johanna: „Die Emotionalität des emotionslosen Stifterbildes in der altniederländischen Malerei“. In: Imago. Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik 1 (2012), S. 105-124, hier S. 110. ↩
- Ebd., S. 105 und Büchsel, Martin: „Emotion und Wiedererkennbarkeit im Porträt der frühen niederländischen Kunst“. In: Städel-Jahrbuch, hrsg. von Bodo Brinkmann u.a., N.F. 20 (2009), S. 91-104, hier S. 99. ↩
- BÜCHSEL 2011, S. 168. ↩
- Ebd. ↩
- SCHEEL 2012, S. 105. ↩
- BÜCHSEL 2009, S. 101; SCHEEL 2012, S. 107. ↩
- SCHEEL 2012, S. 105. ↩
- Ebd., S. 108. ↩
- Ebd., S. 110 und 112. ↩
- Ebd., S. 113. ↩
- BÜCHSEL 2011, S. 146. ↩
- 1. Kor 13, 4-6. ↩
- Der Naumburger Meister. Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen. Bd. 1., Ausst.-Kat., Naumburg 2011, S. 180. ↩
- BÜCHSEL 2011, S. 146. ↩
- Ebd. ↩
- Ebd. ↩
- BÜCHSEL/ SCHMIDT 2005, S. 11. ↩
- Ebd., S. 27. ↩
- BÜCHSEL 2011, S. 160. ↩
- Ebd. ↩
- Ebd., S. 164. ↩
- Ebd. ↩
- BÜCHSEL 2009, S. 92. ↩
- Ebd., NAUMBURGER MEISTER 2011, S. 182; BÜCHSEL/ SCHMIDT 2005, S. 26. ↩
- Vgl. BÜCHSEL/ SCHMIDT 2005, S. 15. ↩
- Obwohl nichts über den Entstehungszusammenhang des Gemäldes bekannt ist, geht man meistens davon aus, dass es sich um ein Altarbild handelt, siehe hierzu FRIEDLÄNDER 1926, S. 51; EISLER 1996, S. 79; DHANENS 1998, S. 137; LANE 1975, S. 477. ↩
- Lukas, 2, 6-7. ↩
- Lukas, 2, 8-16. ↩
- BELTING/ KRUSE 1994, S. 120. ↩
- BERLIN 1975, S. 177. ↩
- DHANENS 1998, S. 140-141; PÄCHT 1994, S. 197; BELTING/ KRUSE 1994, S. 117. ↩
- DHANENS 1998, S. 143; BELTING/ KRUSE 1994, S. 240; FRANKE 2012, S. 231; EISLER 1996, S.79-80; PANOFSKY 2001, S. 342. ↩
- 2. Kor 3, 14-16. ↩
- DHANENS 1998, S. 143-144. ↩
- Ebd., S. 145-149. ↩
- Ebd., S. 141. ↩
- WINKLER 1964, S. 61. ↩