Kreuzberg, Hackney oder Williamsburg heißen die Stadtteile, in denen die dritte Kaffeerevolution stattfindet. Seit der Kaffee im 17. Jahrhundert nach Europa kam, und seit es in den 1950ern chic wurde, Espresso zu trinken wie die Helden italienischer Filme, hat sich einiges getan. Vielleicht ist das gar kein Umsturz. Aber es ist neu, dass die arrivierten Mittelstandskaffeetrinker jetzt genau wissen wollen, woher ihr Kaffee kommt. Pur soll er getrunken werden, ohne Haselnuss- oder Himbeersirup, ohne Sahne oder Sojamilchschaum. Die Frage nach der Röstung ist wichtiger als die Frage nach Milch und Zucker (weder noch, ist meistens die Antwort). Hier geht es vor allem um den Kaffee. Aber beim Kaffeetrinken geht es auch um alles andere.
Die Geschichte des Kaffees ist die Geschichte der europäischen Moderne. Oder umgekehrt. In den ersten Kaffeehäusern in England, um 1650, herrschte ein egalitärer Geist, zumindest unter denjenigen, die sich das teure Getränk leisten konnten. Es durfte sich jeder neben jeden setzen, und jeder durfte mit jedem sprechen. In Paris eröffnete 1689 das Café Procope. Anne-Antoinette Diderot gab ihrem Mann jeden Tag neun Sous, und ihr Mann, Denis Diderot, ging damit zu Procope, um dort die Artikel für seine Enzyklopädie zu schreiben. Ein paar Jahre später trafen sich am selben Ort die Revolutionäre, Jean-Paul Marat und Georges Jacques Danton. Nach der Revolution und nach Napoléon saß hier auch Honoré de Balzac. Der Autor hat begriffen: Wer länger wach ist, kann mehr arbeiten, und der Legende nach hat ihn sein Kaffeekonsum frühzeitig ins Grab gebracht.
Wacher macht nur noch Kokain. Sherlock Holmes und Sigmund Freud lösen ihre Fälle am liebsten unter dem Einfluss des weißen Pulvers. Nachdem Freud am 30. April 1884 zum ersten Mal Kokain probiert hat, empfiehlt er in “Über Coca” die Droge als Linderung für Erkältungen, Müdigkeit, Alkohol- und Morphiumsucht. Er bedauert aber den “unsozial hohen Preis” des Wundermedikaments. Kaffee ist da immer noch erschwinglicher.
Das Industriezeitalter gehört den Aufputschmitteln. Das gilt auch für die Freizeit. Als in Berliner Hinterzimmern der 1920er der sonntägliche Tanztee mit Earl Grey befeuert wurde, passte der gemütliche Teetrinkerrhythmus eigentlich schon nicht mehr in die Zeit. Ein viel besseres Sinnbild für die Beschleunigung in der Moderne ist das Sechstagerennen. Über das Sechstagerennen von 1925 schrieb der Feuilletonist Joseph Roth: “Hätte die Bahn ein Ende, man könnte sagen, an ihrem Ende warte ein Preis, für den es wert ist, sich sechs Tage lang zu martern.” Sechs Tage und sechs Nächte auf einer Holzbahn im Kreis und alles, was die Leistung steigert, war erwünscht. Nachdem Kokain verboten wurde, mussten die Rennfahrer in den kurzen Pausen starken Kaffee mit viel Zucker trinken. Leibesertüchtigung ist in der Weimarer Republik nicht unbedingt eine gesundheitsfördernde Maßnahme. Im Gegenteil: Der Körper wird in den Dienst des Spektakels gestellt. “Ich bin für den Sport, weil und solange er riskant (ungesund) … und Selbstzweck ist,” schreibt Bertolt Brecht und wünscht sich so eine Auffassung auch für das Theater.
Wenn Walter Benjamin den Surrealismus Traumkitsch nennt, meint er das gar nicht negativ. Die Schwelle zwischen Träumen und Wachen ist nur schon so ausgetreten, dass das Banale seinen Weg in die Träume findet. Ausgerechnet in der hypnagogischen Umgebung der Exposition Internationale du Surréalisme von 1938 roch es nach Kaffee. Während die Besucher von oben mit Kohlenstaub berieselt wurden, und mit Taschenlampen im Dunkeln ihren Weg zu finden versuchten, rösteten auf elektrischen Öfen Kaffeebohnen. Da ist nicht mehr viel vom klaren Geist der Aufklärer zu spüren. Das erinnert eher an die Zeit, als Kaffee noch als exotisch und gefährlich galt, riecht aber auch nach Eskapismus. Niemand soll hier wachbleiben.
Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist Wachsein wieder oberstes Gebot in der Kunstwelt. Der Über-Kurator der letzten Jahre wird der Zeitökonomie halber meist HUO abgekürzt: Hans Ulrich Obrist. Es gibt wenige Artikel über den Schweizer Kuratoren und Kosmopoliten, die ohne Zahlen auskommen. 200 Veröffentlichungen, 2000 Reisen in den letzten 20 Jahren, über 1100 Instagram-Posts (darunter weniger Selfies als bei Klaus Biesenbach). Die von Harald Szeemann kuratierte Ausstellung „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ besuchte Obrist 41 mal. Berühmt sind seine 24-Stunden Interview-Marathons. Nach der ersten dieser Veranstaltungen in der Serpentine Gallery ist Obrist vor Erschöpfung zusammengebrochen und musste ins Krankenhaus gebracht werden.
Die meisten Absolventen der Kuratorenschulen haben in Obrist ihr Vorbild gefunden, denn sie wissen: Wer erfolgreich sein will, muss vernetzt sein, sozial und diskursiv. Das geht am besten, wenn man seinen Schlaf minimiert. Die Legende besagt, Obrist habe 50 Tassen Kaffee am Tag getrunken, Herkunft und Röstung egal. Man kann sich Schlaf nicht leisten, wenn “Datenmengen die Nacht ersetzen.” Obrist schläft nicht, und wenn er es doch mal tut, hat er mittlerweile einen Assistenten, der für ihn weiterarbeitet.
Titelbild: Anika Meier