Please find the English version here, in keen on magazine:
Irgendwann einmal, es muss in den 70er und 80er Jahren gewesen sein, da war das Dr. Sommer-Team der Jugendzeitschrift Bravo für die sexuelle Aufklärung zuständig. Zu ihren besten Zeiten bekam die Redaktion 3.000 bis 5.000 Briefe die Woche, einige davon wurden auf einer Doppelseite im Heft beantwortet. Nicht die Eltern wurden gefragt, ob man vom Küssen schwanger wird, ob der Penis zu klein, die Brüste zu groß und die Liebe kompliziert ist, sondern Dr. Sommer. Ein weiser Herr, graues Haar, Bartträger, der immerzu verständnisvoll mit dem Kopf nickt und milde lächelt, wenn er einen Brief öffnet. So oder so ähnlich hat man sich das beim Lesen der Antworten vorgestellt.
Inzwischen brauchen Teenager Dr. Sommer und sein Team als Sexualratgeber nicht mehr, denn inzwischen bekommt man sogar Antworten ohne eine Frage gestellt zu haben. Es geht ganz einfach. Facebook oder Twitter öffnen, scrollen, scrollen, scrollen, ein bisschen hier lesen, ein bisschen da lesen und spätestens nach ein paar Artikeln kommen die interessanten Geschichten. „Warum man während seiner Periode oft Durchfall hat“, „Wie Frauen beim Orgasmus wirklich klingen“, „Wie Lesben verhüten“ oder „Der Vibrator, der dich beim Minecraft-Spielen mit Orgasmen belohnt“. Die Bravo wird in Zeiten von Vice, Bento & Co. höchstens noch mit einem Shitstorm belohnt, wenn sie versucht mitzumischen. Flirt-Tipps für eine Hammer-Ausstrahlung stellte die Bravo letzten Sommer ins Netz, für Mädchen, die auffallen wollen. Aufgefallen ist nur die Bravo selbst, negativ, mit einem rückständigen Frauenbild, das vielleicht in den Anfangsjahren der Zeitschrift in den 50er Jahren als besonders fortschrittlich durchgegangen wäre. Frische Girlswangen benutzen immer Rouge, sexy und gesund wirke das auf Typen, wer nicht unsichtbar sein will, der schminke sich jeden Tag anders und wer von Jungs total niedlich gefunden werden will, der stolpere wie ein kleiner Tollpatsch durch die Welt.
Frauen müssen Männern gefallen, mehr nicht, sie müssen auffallen, bezaubern durch ein angenehmes Äußeres, eine sexy Ausstrahlung, einen heißen Body. Diese Erfahrung hat auch die kanadische Künstlerin und Fotografin Petra Collins in der Pubertät gemacht, wie sie sich als Herausgeberin in der Einführung zu ihrem Fotobuch „Babe“ erinnert. Sie hatte Probleme in der Schule, mit dem Lesen und Schreiben, jeder sagte ihr, sie sei nicht klug genug. Sie blätterte in Magazinen, schaute TV, hörte Musik und stellte fest, macht nichts, es kommt eh nur auf das Äußere an. In ihren Worten: „Always in my mind was the reminder that appearance mattered most, that in order to be a young woman I must have male approval.“ Wie man die Aufmerksamkeit des männlichen Geschlechts erregt, erfuhr sie aus Magazinen, befolgte Schminktipps und alle anderen Tipps, die „physical perfection“ versprachen.
Heute kennt man Petra Collins als Sprachrohr und poster girl der New Wave of Feminism, der vierten Welle feministischer Künstlerinnen. Als sie den Blick der Männer auf sich spürte, war sie angeekelt. Als heranwachsendes Mädchen war sie verunsichert in einem Körper, der sich ständig veränderte. Haare wuchsen, Körperformen wurden runder, Pickel sprossen, alles geriet außer Kontrolle. Also begann sie zu fotografieren, um wieder Kontrolle zu haben. „I wanted control of my body, my image, and myself because, at this point, I didn’t have any“, erklärt sie in „Babe“. Und weil sie sonst keine Bilder fand, die ihrem Lebensgefühl entsprachen, gründete sie unter dem Titel The Ardorous eine eigene Online Plattform für Mädchen wie sie selbst, deren Arbeiten sie zeigt.
Frauen und junge Mädchen sollen sich nicht weiter schämen müssen für ihre Körper, für Schamhaare, für Pickel, Ausfluss, Narben, für Menstruation und Masturbation und für ihre Vagina. Für all das, was in der Werbung nicht zu sehen ist, was nicht dem Ideal entspricht und was sonst mit Photoshop beseitig wird. Dafür setzt sich Petra Collins ein. Gemeinsam mit jungen weiblichen Künstlerinnen, wie Arvida Byström, Mayan Toledano, Mayan Fuhr und Julia Baylis, die ihre Arbeiten am Anfang auf Tumblr und Instagram zeigten. Mittlerweile hängen ihre Bilder in Galerien und Ausstellungen, erscheinen in Magazinen und Büchern.
Sie wissen nur zu gut, wogegen sie ankämpfen, wofür sie einstehen und wie sie Aufmerksamkeit für ihre Sache, ihre Themen, ihre Kunst bekommen. 2013 wurde der Instagram-Account von Petra Collins gelöscht, weil sie ein Foto von sich in einem Bikini-Höschen postete. Selfies im Bikini sieht man alle Tage auf Instagram – aufgenommen vor dem Spiegel mit dem Smartphone in der Hand, sexy in Pose geworfen oder am Strand liegend, der Blick schweift von oben nach unten über den braun gebrannten, durchtrainierten Körper. Am Bikini-Höschen von Petra Collins blieb der Blick hängen, weil es das Schamhaar nicht ganz verdeckte. Das Foto wurde gemeldet, von Instagram gelöscht, und Collins twitterte: „Wow @instagram thanks for making it clear that an unshaven bikini line NEEDS censoring.“ Es genügt schon eine einzige Meldung, damit ein Beitrag von einem Mitarbeiter von Instagram überprüft werden muss und gegebenenfalls gelöscht wird.
Wow @instagram thanks for making it clear that an unshaven bikini line NEEDS censoring. pic.twitter.com/yUePI9BYmQ
— petra collins (@petracollins) 11. Oktober 2013
Das Netz ist schnell in heller Aufregung und scheint dabei nur zwei Pole zu kennen: höchste Höhen und tiefste Tiefen, überschwängliche Begeisterung und abgrundtiefen Hass, der Ausdruck in Beschimpfungen und Beleidigungen findet. Body Shaming trifft alle, die nicht der Norm entsprechen. Das Ergebnis sind von Nutzern gemeldete Bilder, die von Instagram gelöscht werden. Die feministischen Künstlerinnen in den sozialen Medien wissen diese Aufmerksamkeit und die Aufregung um das Thema Zensur für sich zu nutzen.
Dieses Jahr hat es die amerikanische Videokünstlerin und Illustratorin Stephanie Sarley etwas härter in Sachen Zensur getroffen. Auf ihrer Website steht ein Satz, der die Ereignisse der letzten Monate wunderbar zusammenfasst: „She is best known for her fruit fingering video series that appeared on Instagram starting in the later half of 2015.“ Aus food porn hat Stephanie Sarley im wörtlichen Sinne fruit porn gemacht. Zärtlich streichelt sie mit den Fingern Früchte in ihren Videos auf Instagram. Die Assoziation ist ganz klar: Vagina, Masturbation.
Ein von Stephanie Sarley (@stephanie_sarley) gepostetes Video am
Der Kunstkritiker Jerry Saltz zeigte sich auf Instagram begeistert und kommentierte: „You. Are. Genius.“ Ihre Videos gingen viral, die Medien berichteten und ihr Account wuchs in wenigen Monaten von 10.000 Followern auf aktuell knapp 160.000. Die Begeisterung teilten nicht alle, denn immer wieder wurden Bilder und Videos von Instagram gelöscht und nach Protest von Sarley wieder hergestellt. Fragt man sie, ob sie die Zensur in den sozialen Medien immer im Kopf hat, sagt sie: „Yes, actually my Orcunts, Crotch Monsters and fruit art are all inspired by censorship. A few years back I was being censored more often so I created a set of characters and themes that work around the rules. I think it’s my calling right now to make art and post it to the internet, connecting with my audience.“ Instagram nutzt sie, um ihre Arbeiten einem größeren Publikum zugänglich zu machen, wie sie erklärt: „Keep in mind I only post a fraction of what I produce behind the scenes but the viral reach power on the web is super effective in getting my message across and promoting my work.“
Eine Handreichung zum Schluss: So fällst Du als Feministin in den sozialen Medien auf.
5 Tipps für eine Hammer-Aufregung
Du hast die Schamhaare schön. Zeig Instagram Deinen üppigen Haarwuchs an den Beinen oder im Intimbereich. Das finden viele Menschen eklig.
Setz Dich mit einem blutigen Höschen in ein Café oder einfach nur auf den Boden in Deinem Zimmer. Pluspunkte gibt ein Bild von Dir auf dem Klo sitzend mit einem blutigen Höschen zwischen den Beinen. Das alles finden noch mehr Menschen eklig.
Nimm einen blutigen Tampon in die Hand und lauf damit durch die Gegend. Das finden sehr sehr viele Menschen super eklig.
Nimm etwas, das aussieht wie eine Vagina und stimuliere es wie eine Vagina. Porn.
Trage ein pinkes Höschen, auf dem Feminist geschrieben steht. Das ist süß.
Dieser Text ist zuerst online auf Englisch im Magazin keen on erschienen, das Thema der Ausgabe im September ist attention.
Titelbild: Blood Orange, Stephanie Sarley