Das makellose Weiß der Wand durchbricht ein Loch, umgeben von schmalen Linien in Blau, Grün und Rot. In unregelmäßigen, konzentrischen Kreisen verlaufend, erinnern sie an die Jahresringe eines Baumes. Pierre Huyghes Arbeit „Timekeeper“ zeigt, was in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden sonst hinter dem Putz verborgen bleibt: Mit Messer und Schleifpapier hat der Künstler in akribischer Feinarbeit Schicht um Schicht des Anstrichs von der Ausstellungswand abgetragen und so die Reste früherer Bemalungen freigelegt. Huyghes archäologisch anmutende Spurensuche ist Teil der Ausstellung „Auf Zeit. Was hinter dem Putz steckt“. Diese thematisiert die künstlerische Auseinandersetzung mit der Wand des Ausstellungsraums und wirft zugleich einen Blick zurück in die Geschichte der Baden-Badener Kunsthalle. Immer wieder realisierten Künstlerinnen und Künstler dort Arbeiten direkt auf den Wänden, meist in Form großformatiger Malereien und Zeichnungen – örtlich gebundene Werke auf Zeit, die nach Ende der jeweiligen Ausstellung wieder überstrichen wurden. Nun rücken diese noch einmal in den Fokus der Aufmerksamkeit; anhand von Entwürfen und Fotos werden ausgewählte Beispiele aus über vier Jahrzehnten dokumentiert, die ein weites Feld verschiedenster künstlerischer Positionen abdecken.
Der Blick zurück
Den Auftakt machte 1970 Blinky Palermo. Im zentralen Oberlichtsaal der Kunsthalle setzte er einen tiefblauen, 15 Zentimeter breiten Streifen unter das Ornamentfries, das die Wände nach oben hin abschließt. Die darunter liegende Wandfläche blieb frei. Palermo verstand diese umlaufende Linie als Rahmung, die den Raum akzentuierte. Indem er die gewohnte Präsentationsfläche für Kunstwerke, die Wand in Augenhöhe, freiließ, unterlief der Künstler die Erwartungshaltung des Publikums, das die Bemalung knapp unterhalb der Decke erst bei genauerem Hinsehen entdeckte. Die unbetitelte Arbeit dürfte wohl die bis heute radikalste Lösung im Umgang mit den Räumen der Kunsthalle darstellen. Sie steht exemplarisch für den damaligen Paradigmenwechsel innerhalb der Kunst, der unter dem Schlagwort „Ausstieg aus dem Bild“ neu definierte, was Kunst ist und sein kann.
Dass die konzeptionelle Absage an tradierte Formen des Tafelbilds die künstlerische Auseinandersetzung mit der Wand entscheidend mitbestimmte, ist eine zentrale These der Ausstellung, die auch in den Arbeiten späterer Jahre immer wieder greift. Die Beschäftigung mit den Bedeutungsdimensionen von Wand und Raum nimmt dabei vielfältige Formen an. Eine großflächige, den gesamten Saal umspannende Wandzeichnung realisierte 1978 Guiseppe Penone, ein Vertreter der Arte Povera. Grundlage der Arbeit waren riesenhaft vergrößerte Abdrücke der eigenen Haut, die der Künstler auf die Wand projizierte. Aus winzigen Poren und Fältchen entstand so ein abstrakt-ornamental anmutendes Gesamtbild, das sich über sämtliche Wände, ja selbst über Türen und Lamperie des Saals erstreckte. Die Wand erschien damit nicht als bloßer Bildträger, sondern wurde in ihrer Funktion als Haut, als umschließende Hülle des Raumes kenntlich gemacht. Die Arbeit steht exemplarische für Penones Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und dessen Beziehung zur ihn umgebenden Welt. Indem der Künstler seiner Umgebung das Bild des eigenen Körpers einprägt, eignet er sich diese demonstrativ an. Dem Motiv der Haut – als Abgrenzung gegenüber der Umwelt, zugleich aber auch als Sinnesorgan zu deren Wahrnehmung – kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.
Die Spuren, die das wiederholte Bemalen und Überstreichen der Wände der Ausstellungsräume hinterlassen hatte, dokumentierte Karin Sander 1994 in ihrer Arbeit „Wand in Stücken“: Sie hielt die grobkörnige, an Raufasertapete erinnernde Oberflächenstruktur in einer Fotografie fest, die tdurch Offsetdruck in verschiedenen Formaten vervielfältigt wurde. In enger Hängung in rahmenlosen Bildhaltern präsentiert, bedeckten die Bilder die Wände zu Ausstellungsbeginn fast völlig – eine tautologisch anmutende Doppelung, mit der die tradierte Funktion der Wand als Präsentationsfonds des Bildes selbst in den Fokus rückt. Zugleich war es Teil von Sanders Konzept, dass die Drucke bereits im Verlauf der Ausstellung verkauft und abgehängt wurden, so dass nach und nach unter den Bildern der nackten Wand wieder diese selbst zum Vorschein kam.
Die politische Dimension der Wand als Ort der Verlautbarung und Information thematisierte 1994 Michaela Melián mit „Tomboy“. Auf rechteckigen, rosafarbenen Wandfeldern brachte sie per Handdruck Phantombilder an, die an eine steckbriefliche Fahndung erinnerten – gesucht (und damit zugleich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt) wurden Frauen, die sich durch einen Beitrag zur weiblichen Emanzipation in der männlich dominierten Gesellschaft auszeichneten, darunter etwa die amerikanische Feministin und Anarchistin Emma Goldman und Tamara Bunke, die als Guerillera zusammen mit Che Guevara in Bolivien kämpfte.
Corinne Wasmuth gestaltete 2003 ein panoramahaftes Wandbild, das Fragmentierung und Dekonstruktion an die Stelle des traditionellen, illusionistischen Bildraums setzt. Als Grundlage für das Motiv dienten Fotos von Wartehallen internationaler Flughäfen in ihrer standardisierten Gleichförmigkeit. Fragmentiert, verfremdet und neu kombiniert, verweisen sie auf die Nichtfassbarkeit eines konkreten Ortes wie auf die mediale Bilderflut, deren hohes Tempo Wahrnehmung und Bewusstsein überfordert – zentrale Themen im Werk der Künstlerin. Die Umsetzung in Form eines örtlich gebundenen und zugleich temporär begrenzten Wandbildes akzentuiert dabei Wasmuths Auseinandersetzung mit Zeit und Raum noch einmal zusätzlich.
Pionierleistungen der Wandkunst
Darüber hinaus sind in der Ausstellung Rekonstruktionen wegweisender Wandarbeiten zu sehen, die von Pionieren dieser Kunstform wie Sol LeWitt oder Lawrence Weiner konzipiert wurden. LeWitts „Wall Drawing #97“, bestehend aus zwei quadratischen Feldern, die einmal mit schnurgeraden, einmal mit krummen, von Hand gezogenen Bleistiftlinien gefüllt sind, wurde nach den Angaben des 2007 verstorbenen Künstlers von dessen Assistenten realisiert. „Die Idee wird eine Maschine, die die Kunst macht“, so LeWitts Diktum: Nicht die Ausführung, sondern vielmehr das zugrunde liegende Konzept steht im Mittelpunkt des Werks. Folgerichtig ließ der Künstler schon zu Lebzeiten seine Wandzeichnungen von Gehilfen ausführen; er selbst notierte hierfür detaillierte Handlungsanweisungen. Im „Wall Drawing #97“ ist die Setzung der einzelnen Linien flexibel zu handhaben, so dass das Werk bei jeder neuen Realisierung leicht verändert ist; die Eigenheiten des jeweiligen Ortes bestimmen die Arbeit mit. Die Umsetzung direkt auf der Wand zielt dabei vor allem darauf, die Zweidimensionalität der Zeichnungen hervorzuheben – nicht als Fenster zu einem imaginären Bildraum oder als greifbares Objekt soll das Werk erscheinen, sondern als bloße Oberfläche.
Hinter diese Oberfläche blickt Lawrence Weiners Arbeit von 1968, für die der Künstler auf einem quadratischen Feld von 36 Zoll Seitenlänge den Putz von der Ausstellungswand entfernte. Formal stellt das Quadrat einen Bezug zur tradierten Form des Tafelbilds her, zugleich erscheint es jedoch als dessen Negativ, als eine Verweigerung gegenüber konventionellen Bildvorstellungen: Anstatt durch bildliche Darstellung die Illusion eines Tiefenraums zu schaffen, rückt Weiner die üblicherweise hinter dem Bild verborgene Realität der Wand in den Fokus. In ihrer Materialität offen gelegt, fungiert diese nicht länger als neutraler Präsentationsort, sondern wird selbst zum Thema des Werks. Weiners Arbeit steht exemplarisch für eine kritische Auseinandersetzung mit den Mechanismen des White Cube, wie sie theoretisch in Brian O’Dohertys wegweisendem Essay „Inside the White Cube“ von 1976 formuliert wurde: Die Präsentation von Kunstwerken in gänzlich weißen Räumen hebt das einzelne Werk hervor und verstärkt seine Präsenz, ist zugleich aber unterschwellig ideologisch aufgeladen. Die weiße Wand ist nur scheinbar neutral; tatsächlich transportiert sie fest gefügte Wertvorstellungen und Machtstrukturen, die im institutionalisierten Kontext des Ausstellungswesens das Verständnis und die Rezeption von Kunstwerken bestimmen.
Aktuelle Positionen
Dass diese Thematik Künstlerinnen und Künstler bis heute umtreibt, zeigen aktuelle Arbeiten, die als Ergänzung zum retrospektiven Teil der Baden-Badener Ausstellung fungieren und die Geschichte der Wandkunst fortschreiben sollen: Für „The Named Series“ baten Elmgreen & Dragset renommierte Museen weltweit, einen Teil des weißen Anstrichs von den Ausstellungswänden zu lösen. Diese präsentiert das dänisch-norwegische Künstlerduo in Form weißer Quadrate auf ungrundierter Leinwand, umgeben von einem schwarzen Rahmen, der den jeweiligen Herkunftsort angibt. Ähnlich wie in Karin Sanders Fotoarbeit von 1994 werden so auf weißen Wänden Bilder weißer Wände gezeigt. Während Sander ihre Arbeit jedoch mit einem konkreten örtlichen Bezug zur Kunsthalle Baden-Baden konzipierte, thematisiert „The Named Series“ die international gültigen Standards und Normen der Präsentation von Kunstwerken, die die Sphäre der Kunst von jeglichem lokalen Kontext abgekoppelt erscheinen lassen. Die weißen Farbflächen sind gänzlich ununterscheidbar, egal, ob sie aus der Tate Liverpool, dem Kölner Museum Ludwig oder der Pinakothek der Moderne in München stammen.
Derartige Vorstellungen von Neutralität und Reinheit des Ausstellungsraums unterläuft Nedko Solakov mit feiner Ironie. In „A (Not So) White Cube“ kommentiert er humorvoll und originell jede noch so kleine Unebenheit der weißen Wandfläche mit Textbotschaften und winzigen Zeichnungen, die oft nur bei genauem Hinsehen auszumachen sind. Da wird eine Vertiefung zum See, eine überstrichene Schraube in der Fußleiste zum UFO, und aus der Ecke verkündet ein winziges Strichmännchen: „I’m cornered and I’m happy“.
Solakovs subtiler Hinterfragung des White Cube geradezu diametral entgegengesetzt, erscheint Liz Larners „Corner Basher“ von 1988, der mit großer Geste destruktive Kräfte entfaltet. Eine an einer Kette rotierende Stahlkugel durchbricht die Wände des White Cube, wobei der Besucher mittels eines Reglers selbst die Wucht des Aufschlags bestimmt. Larner variiert hier Lawrence Weiners Konzept, Substanz und Materialität der Wand offen zu legen, dem ja durchaus auch ein destruktives Moment innewohnte. In „Corner Basher“ wird dies zu einem Akt brachialer Gewalt gesteigert, der noch größere Radikalität suggerieren soll – freilich relativiert durch die Tatsache, dass hier nicht die wirkliche Bausubstanz attackiert wird, sondern eigens zwei zu zerstörende Wände eingezogen wurden. De facto wird Weiners ursprünglichem Ansatz jedoch inhaltlich kaum Neues hinzugefügt, sieht man einmal von der Partizipation des Betrachters ab, der den Einschlag der Stahlkugel jedoch weniger als Akt der Befreiung von der Norm des White Cube denn als Effekt heischendes Schreckmoment empfinden dürfte.
Farbenfrohe Überwältigung
Im Kontrast zur konzeptionellen Auseinandersetzung mit dem White Cube stehen großformatige, farbintensive Wandmalereien, die Malene Landgreen und Franz Ackermann eigens für die Baden-Badener Ausstellung schufen. Während Landgreens „Wanderlust (Compass Rose)“ einen kleinen oktogonalen Raum mit geometrischen Formen und nervös schwingenden Linien umspannt, gestaltet Ackermann auf über 200 Quadratmetern mit „Kleine Flotte“ einen monumentalen Zyklus in vier Kapiteln, der den Besucher im ersten Saal der Ausstellung empfängt. Ein tiefblauer Grund fungiert als verbindendes Element. Davor setzt der Künstler Formen in leuchtenden Farben, teils gänzlich gegenstandslos, teils mit gerade noch erkennbaren figurativen Anklängen. Erst auf den zweiten Blick zeichnet sich etwa inmitten der Farbflächen die Tragfläche einer Boeing 747 ab, während auf der benachbarten Wand geometrische Formen in einer Sanduhr zu schweben scheinen – Motive, die durch Ackermanns intensive Reisetätigkeit inspiriert sind, in seinen Arbeiten jedoch in freier Assoziation neu kombiniert werden. In seiner intensiven Farbigkeit entfaltet das den gesamten Saal umfassenden Werk dabei eine optisch geradezu überwältigende Wirkung, noch verstärkt durch die Gegenüberstellung mit den nüchternen Arbeiten Sol LeWitts oder Elmgreen und Dragsets, die in den angrenzenden Räumen präsentiert werden.
Starke sinnliche Eindrücke wechseln sich so ab mit formal reduzierten Arbeiten, die konzeptionelle Hintergründe fokussieren. Der Rückblick in die Geschichte der Kunsthalle Baden-Baden ergänzt die Präsentation maßgeblich durch ebenso vielfältige wie überzeugende künstlerische Positionen. Tatsächlich wirken viele der historischen Arbeiten auch heute noch innovativer als manches zeitgenössische Werk – vor allem der Auseinandersetzung mit den Mechanismen des White Cube wird hier mit Ausnahme von Solakovs „A (not so) white cube“ wenig Neues hinzugefügt.
Den im Katalog formulierten Anspruch, eine Bilanz der Wandkunst als einer konzeptionellen Revolte gegen die tradierte Form des Tafelbilds vorzulegen, erfüllt die Ausstellung im exemplarischen Blick auf die Geschichte des eigenen Hauses. Die hervorragende Vermittlung der Inhalte und Hintergründe durch Texte und Multimedia-Guides tut dazu ein Übriges.
„Auf Zeit. Was hinter dem Putz steckt“ war vom 20.07. bis 27.10.2013 in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden zu sehen. Die Ausstellung entstand in Kooperation mit der Kunsthalle Bielefeld, die unter dem Titel „Auf Zeit. Wandbilder, Bildwände“ vom 04. August bis zum 20. Oktober ebenfalls einen Blick auf die Wandarbeiten im eigenen Hause warf.
Am 11. September 2013 fand eine Podiumsdiskussion zur Geschichte des Wandbilds in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden mit den ehemaligen Direktoren des Hauses statt.