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Punkte beim disziplinierten Stehtanz

„Nur 10 Minuten bis zum Eiffelturm“ ist auf dem Flyer zu lesen. Startpunkt ist das Städel Museum am Schaumainkai, wo inzwischen Ruhe eingekehrt ist - Botticellis Werke haben die Heimreise angetreten, und seine Fans müssen wieder nach Florenz, London, Berlin etc. reisen. Derzeit gastiert ein zweidimensionaler, aus farbigen Punkten gebauter Eiffelturm in Frankfurt. Der Fußweg dorthin führt am Museumsufer entlang, über den von Max Beckmann festgehaltenen Eisernen Steg in die Altstadt. An der Fassade der Schirn wehen riesige Fahnen mit aufgedrucktem Eiffelturm, hinter den Glasfenstern in der Rotunde stehen als lebensgroße Puppen die Protagonisten aus Georges Seurats wohl bekanntestem Werk, „Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte“. Vor der Schirn ist es ruhig, auch im Haus kein Andrang - die Symptome einer „Blockbuster“-Ausstellung fehlen -, schnell noch die Treppen in den zweiten Stock steigen.

Miniatur-Eiffelturm aus fünf ungemischten Farben.

Bereits beim Eintreten in den Ausstellungsraum fällt der Blick auf das Emblem der Ausstellung, das an der Wand gegenüber der Tür hängt: der Eiffelturm in Miniaturform - der Bildträger Holz ist in etwa so groß wie ein Din A 4 Blatt. Tritt man näher heran, beginnt ein Gewimmel von Punkten diszipliniert im Stehen zu tanzen. Das Abbild des 10.000 Tonnen schweren, symbolträchtigen Bauwerks aus Stahl konstruierte Seurat im Jahr dessen Einweihung anlässlich der Weltausstellung 1889 aus fünf Farben, die ungemischt, in Punkten nebeneinander- und aufeinandergesetzt sind. Als Seurat das Bild malte, war der Turm, den 3.000 Arbeiter innerhalb von zwei Jahren errichteten, noch nicht fertiggestellt. Seurats Gemälde ist die Momentaufnahme eines Work in progress, ein „Status quo“ besagt der Katalogeintrag, zugleich deutet er auf der Leinwand den Baufortgang an. Wie eine Himmelseiter flackert die Spitze des heute 300 Meter hohen Turmes auf.

„kaltes feuer“

Viel ist über Seurats „neuen Anfang“ (Gottfried Boehm) in der Malerei geschrieben worden, über seine Antwort auf die Impressionisten, die Punktstreuung, Pointillismus lautete. Mit dem Katalog zur Ausstellung folgen das Kunsthaus Zürich - die erste Station der Ausstellung - und die Schirn Kunsthalle offenbar Seurats mit der Nachbildung des Eiffelturms eingeschlagenen Richtung: Size doesn’t matter beziehungsweise - im Hinblick auf die Publikationstätigkeit - Seitenumfang und wissenschaftlicher Fleiß sollen nicht oberstes Qualitätskriterium sein. Eine Vielzahl der ausgestellten Werke ist im Katalog abgedruckt, und freilich vermisst man bei der Lektüre einen neuerlichen Blick auf eben diese. Allerdings weiß der Katalog zu bestechen: Da ist zum einen ein großer Name, Gottfried Boehm, mit dem Aufsatz „kaltes feuer. figur und landschaft bei georges seurat“. Als wollten sich die Texte selbst zurücknehmen, sind alle Überschriften, so übrigens auch der Titel der Ausstellung „georges seurat. figur und raum“ auf dem Katalog, klein geschrieben. Verhalten ist auch die These von Boehm, Seurats „historische Grösse“ habe damit zu tun, dass er mit Malerei und Zeichnung knapp zwanzig Jahre vor der Jahrhundertwende einen neuen Anfang gemacht habe. Er versteht Seurats Entscheidung, den farbigen Punkt zum Baustein seiner Gemälde zu machen, als eine „Radikalisierung des Impressionismus“. Den impressionistischen Pinselduktus - offene, spontan gesetzte Flecken -, bändigte Seurat und sorgte für Disziplin auf der Bildfläche. Boehm schreibt die „Verbindung von Kalkül und Intensität, von linearen Konstrukten und Energien des Lichts begründen jenes kalte Feuer, das Seurat auszeichnet“.

Schlauchartige Ausstellungsarchitektur mit Kojen auf der linken und rechten Seite.

herumstehen, herumsitzen und herumschauen

Und da ist zum anderen ein wunderbarer Essay aus der Feder des Schriftstellers Wilhelm Genazino, der den Gemälden Seurats eine trügerische Idylle, eine sanfte Unruhe zuschreibt, die beim Betrachter Misstrauen wecken. Seurats Gemälde, wie „Badeplatz bei Asnières“, zeigen Menschengruppen am Flußufer, die dicht beieinander sitzen und liegen und in eine Richtung schauen. Was sie da sehen, liegt außerhalb des Bildraumes. Vielleicht wissen sie nicht, wie man am besten seine Zeit totschlägt, vermutet Genazino, für den darin die „Poesie verschwendeter Zeit verborgen ist“.

Liest man Genazinos Essay in der Ausstellung (leider liegen auf den Bänken keine Kataloge zur Lektüre bereit, man muss ihn also in der Tasche tragen), der - wie der Titel besagt - vom „herumstehen, herumsitzen, herumliegen“ von Seurats Protagonisten in der Natur handelt, wird man unvermittelt bewusst zum Herumstehenden, Herumsitzenden und Herumschauenden in einer Menschengruppe. Man selbst ist bisweilen in Bewegung, weiß bisweilen, wohin man gemeinsam schaut, dann wieder liegen aufgrund der schlauchartigen Ausstellungsarchitektur mit Kojen mal rechts, mal links, in denen die Gemälde hängen, die folgenden Werke im Verborgenen.

Figuren im Raum.

Hafenansichten ohne Klabautermann

Das Thema der Ausstellung „Figur im Raum“ ist sehr weit gefasst, entsprechend weit ist auch die Definition dessen, was eine Figur ist. Neben der menschlichen Natur schlüpfen in den Landschaften und Hafenstücken Bäume und Hügel in die Rolle der Figur, kann man im Katalog nachlesen. Der Einwand von Patrick Bahners, der Titel treffe nicht „auf die von keinem Klabautermann heimgesuchten Hafenansichten zu“, hat seine Berechtigung. Zudem würde man sich eine auf das Oeuvre von Seurat zugeschnittene Fragestellung wünschen, wenn denn das Thema die Ausstellung dominieren würde. Vielmehr werden vom Frühwerk an, chronologisch hervorragende Zeichnungen und Skizzen gezeigt, die - mit oder ohne übergeordnete Fragestellung - bestechen, beispielsweise eine Reihe von Skizzen zu Seurats Hauptwerk „Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte“ aus dem Jahr der letzten Impressionistenausstellung. Die großformatige Komposition, ein Lehrstück seiner „Methode“, wie Seurat seine pointillistische Maltechnik bezeichnete, muss in der Schau leider fehlen, da es Chicago aus restauratorischen Gründen nicht mehr verlassen wird. Die zahlreichen Skizzen sind mehr als nur ein Ersatz für jenes Bild und den fehlenden „Badeplatz bei Asnières“, zeigen sie doch, wie Seurat zunächst über einen längeren Zeitrum ‚plein air‘ malte und auf der Insel La Grande Jatte Impressionen einfing, um anschließend im Atelier die große Leinwand mit Punkten zu überziehen.

„Plein air" Studie für „Einen Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte", die inmitten der Seine zwischen Neuilly und Courbevoie liegt.

Jähes Ende

Neben dem Eiffelturm zu Beginn der Ausstellung bekommt wiederum am Ende ein zweites Gemälde eine eigene, große Wand für sich. Davor steht eine lange Bank, auf der die Besucher Platz nehmen können. Wie die Zuschauer in Seurats „Zirkus“ aus den Jahren 1890/91 sitzen die Museumsbesucher und betrachten das Schauspiel in der Manege, wo zwischen Harlekins eine voltigierende Artistin auf einem weißen Pferd in gelbem Kostüm ein Kunststück vorführt. Mit seinen diszipliniert im Stehen tanzenden Punkten bringt Seurat hier gleichermaßen Bewegung und Stillstand zum Ausdruck, die Bewegtheit der Artisten und des Pferdes und den Statuencharakter der Zuschauer auf den Rängen. Den Punkten kommt darüber hinaus an den Rändern einiger Gemälde ein dekorativer Charakter zu, so besteht der breite Rahmen des „Zirkus“ aus blauen Punkten. In der letzten Koje, die vielmehr eine Sackgasse ist, erschließt sich damit auch die Farbwahl der Ausstellungsarchitektur.

Bewegung und Stillstand im „Zirkus".

Mit dem „Zirkus“ ist man im letzten Lebensjahr des Künstlers angekommen, der 1891 im Alter von 31 Jahren plötzlich verstarb - jäh nimmt auch die Ausstellung mit einer Wand ein Ende, die zur Umkehr zwingt. Auf dem Weg zurück zum Eiffelturm passiert man noch einmal die Serie von Seestücken, von denen Seurat ab 1885 bis zu seinem Tod jährlich eines an unterschiedlichen Orten an der nordfranzösischen Künste malte. Und noch einmal fällt der Blick auf die hervorragenden Zeichnungen, von denen viele als Figurenstudien für die großen Gemälde dienten und trotz des unterschiedlichen Materials nicht weit von diesen entfernt sind. Seurats Kombination eines grob gekörnten, rauen Büttenpapiers mit einem weichen Kohlestift lässt die Poren des Blattes als Punkte hervortreten - Punkte, wohin das Auge sieht.

Die Ausstellung „Georges Seurat. Figur und Raum“ ist auf ihrer zweiten Station in der Schirn Kunsthalle Frankfurt noch bis 9. Mai zu sehen. Der Katalog (Hatje Cantz) kostet 29,80 Euro.

Abbildungen: Fine Arts Museum of San Francisco. Museum purchase, Wiliam H. Noble Bequest Fund / Norbert Miguletz / Collection Albright-Knox Art Gallery Buffalo, New York. Gift of A. Conger Goodyear / Musée d’Orsay, Paris. Legs de John Quinn, 1927. bpk/RMN/Patrice Schmidt.

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