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Poesie des Augenblicks

Breite, pastos aufgetragene Farbstreifen in Blau-, Türkis-, Rosè- und Cremetönen wirbeln in zyklischen, gegeneinanderläufigen Bewegungen auf der Leinwand; es ist ein gewaltiges Schauspiel, das sich auf Sisleys „Überschwemmung in Moret“, vielleicht einem der eindrucksvollsten Werke der Ausstellung, am Himmel abspielt. Es ist der Moment zwischen Ruhe und Sturm, der Moment des Übergangs, in dem die Natur ihre Unschuld wiedergewinnt. Nur das gekräuselte Wasser, die leicht wogenden Äste, die von den am rechten Bildrand verschwindenden Unwetterwolken in Bewegung versetzt wurden, geben noch einen Hinweis auf die potentielle Urgewalt der Natur, während es sich am Horizont bereits aufzuhellen scheint.

„Gibt es etwas Schöneres und Bewegenderes?“

Bateaux sur la Seine, 1877

Auf Sisleys Seine-Bildern dominiert der Himmel die Bildfläche.

Doch es ist keine Warnung oder romantische Verklärung, die Sisley erzeugen will, es ist die Faszination des atmosphärischen Augenblicks, die es einzufangen gilt. Und als Träger dieser Atmosphäre dient Sisley der Himmel, der in allen nur auszudenkenden Variationen in Szene gesetzt wird. Sisley selbst kommt in einem Brief an Adolphe Tavernier ins Schwärmen:

„(…)der Himmel ist nicht nur ein Hintergrund. Er trägt im Gegenteil nicht nur dazu bei, dem Bild Tiefezu geben (weil der Himmel ebenso verschiedene Schichten hat wie die Landschaft selbst), er bringt auch die Bewegung ins Bild und zwar durch seine Form, seine Darstellung im Verhältnis zur Lichtstimmung oder zur Komposition des Gemäldes. Gibt es etwas Schöneres und Bewegenderes als ihn, der sich jeden Sommer von Neuem bildet, ich spreche vom blauen Himmel mit den schönen weißen Wolken, die vorüberziehen. Was für eine Bewegung, was für ein Anblick, nicht wahr?“

Zwischen Himmel und Erde

Apres la Débacle, la Seine au Pont de Suresnes, 1880

Und noch einmal die Seine: Der raue Winter 1880 machte die Seine unpassierbar, dicke Eisschollen blockierten den Flusslauf, die Sisley in flüchtigem Pinselduktus festhält.

Wie fast alle Impressionisten war Sisley begeistert von den Lichtreflexen und atmosphärischen Spiegelungen auf der Wasseroberfläche, und so widmet die Ausstellung einen ganzen Raum dem geradezu wissenschaftlich anmutenden Zyklus an Seinestudien. Und auch hier fungiert der Himmel, der durchgehend zwei Drittel des Bildraumes einnimmt, als stimmungserzeugendes Moment. Das in flüchtigen Pinselstrichen am Horizont angedeutete Ufer wird dabei zur Spiegelachse für den flirrend-schimmernden Flusslauf, der sich als Ebenbild des Firmaments sanft mäandernd seinen Weg durch die Ebene bahnt. Da färbt sich die Seine bei Tagesanbruch in kühlen, dunklen Blautönen, die von hellblau-weißen Flecken gedämpft werden, wie sie die in mächtigen Haufen aufsteigenden Wolkentürme vorgeben. Ein anderes Mal flutet das Gelb der sonnenbestrahlten Wolkenschleier Ufer und Strom und dann wieder verschwimmt die Grenze zwischen Wasser und Himmel in einem diesigen, grau-blauen Regenwolken behangenen Vorhang. Kein Himmel gleicht dem anderen, seine Erscheinungsform macht jede Leinwand zum Unikat und verleiht dem Werk Sisleys gleichzeitig einen roten Faden.

Aber dies ist nicht das einzige Alleinstellungsmerkmal Sisleys. Als in Paris geborener Engländer kam er während seiner Kaufmannslehre bei seinem Onkel in London schon früh in Kontakt mit der romantischen Landschaftsmalerei eines William Turner, Richard Bonington oder John Constable, bei denen die Auflösung der Linie zugunsten einer intensiven, ausdrucksstarken Farbwirkung bereits angelegt war. Wie stark Sisleys Stil von diesen Vorbildern geprägt wurde, lässt sich in Wuppertal gleich im ersten Ausstellungsraum wunderbar nachvollziehen. Hier werden, neben einem ausführlich und anschaulich aufgearbeiteten Lebenslauf, exemplarische Werke der künstlerischen Wegbereiter gezeigt.

„Physische Präsenz der Atmosphäre“

Doch Sisleys Individualstil ist weitaus facettenreicher: Die beruflichen Anfänge des sich bis zu seinem Tod vergeblich um die französische Staatsbürgerschaft bemühenden Sisleys waren nach seiner Rückkehr nach Paris im Jahr 1860 maßgeblich von den Künstlern der „Schule von Barbizon“ um Theodore Rousseau geprägt. Sie hatten die „plein-air-Malerei“ im Wald von Fontainebleau, wo auch Sisleys erste Bilder entstanden, initiiert. Diese ersten Werke haben jedoch noch nicht die filigrane Leichtigkeit im Pinselstrich, sie versprühen noch nicht die Non-Chalance der Werke aus den späten siebziger Jahren oder wie der Kritiker Ernest Chesneau es ausdrückt die „physische Präsenz der Atmosphäre“. Es ist diese sukzessive Fortentwicklung, der malend vollzogene inhärente Prozesscharakter, der ins Auge sticht und durch die chronologische Hängung auch konzeptionell unterstrichen wird.

Monumentaler Schlusspunkt: Der Bildzyklus um den „Storr’s Rock“

Les scieurs de Long, 1876

Das Bild „Die Bandsäge” (1876) erinnert an Gustave Courbets „Steineklopfer“.

Und immer wieder ist da auch der behutsam beobachtende, ja vielleicht sogar nachdenkliche Sisley. Das Bild „Die Bandsäge“ von 1876 lässt unwillkürlich an Gustave Courbets Steineklopfer denken, auch wenn hier, in weichen, warmen Pastelltönen gezeichnet, ein sensibles Gespür für das Arbeitspathos und die Poesie des Augenblicks erkennbar werden. Ähnlich verhält es sich mit der Bilderserie über den Storr’s Rock, die der bereits schwer erkrankte Künstler auf seiner letzten Englandreise kurz vorseinem Tod angefertigt hat. Wie da am unteren Bildrand ein junger Mann in Rückenansicht ehrfurchtsvoll vor dem mächtigen, von Wind und Salzwasser mit tiefen Kratern durchsetzten und von der Abendsonne mit glühenden Lichtpunkten besetzten Felsbrocken steht, wie klein da der Mensch vor der Weite des Meeres und der Tiefe des Horizonts wirkt - man fühlt sich an Caspar David Friedrichs metaphysische Andachtsbilder wie etwa den „Mondaufgang am Meer“ erinnert, die in ihrer metaphorischen Dichte die existentiellen Fragen des Lebens auszudrücken in der Lage sind. Auch wenn es bei Sisley nicht um transzendente Weltentwürfe geht, kann im Vergleich zum spielerischen Farb- und Formereignis eines Monets eine Tendenz zur Intensivierung von Bildsujet und Malweise festgestellt werden.

Der Bildzyklus um den Storr’s Rock stellt den monumentalen Schlusspunkt einer Ausstellung dar, der eine Hommage an Alfred Sisleys Lebenswerk gelingt. Eingebettet in den zeitgeschichtlichen und biographischen Hintergrund werden sowohl sein Beitrag für die impressionistische Bewegung als auch seine künstlerische Leistung gewürdigt.

Die Ausstellung „Alfred Sisley – der wahre Impressionist“ ist noch bis 29. Januar 2012 im Von-der Heydt-Museum in Wuppertal zu sehen. Der Katalog zur Ausstellung ist für 25 Euro erhältlich.

  1. Abb. 1 | Alfred Sisley, Bateaux sur la Seine, 1877
    Copyright Foto: Samuel Courtauld Trust, London, UK/Bridgeman
    Berlin
  2. Abb. 2 | Alfred Sisley, Apres la Débacle, la Seine au Pont de Suresnes, 1880
    Copyright Foto: Musée des Beaux-Arts Lille, France/Giraudon
    The Bridgeman Art Library
  3. Abb. 3 | Alfred Sisley, Les scieurs de Long, 1876
    Copyright/Foto: Roger Viollet
    Quelle: Von-der-Heyft Museum Wuppertal

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