„9 Billion human-hours of Solitaire were played in 2003“, konstatierte Luis von Ahn in seinem Vortrag über „Human Computation“. Unter anderem diese gigantische Stundenzahl brachte den Associate Professor am Computer Science Department der Carnegie Mellon University, Pennsylvania, auf die Idee, die Möglichkeiten des Internets zu nutzen und mittels Crowdsourcing zahlreiche Menschen dazu zu bringen, Aufgaben zu erledigen, die Computer bisher nicht selbständig ausführen können. Einen nutzbringenden Anwendungsbereich fand er beispielsweise bei der Bilderkennung sowie beim Verschlagworten von Bildern. Hierfür entwickelte von Ahn das Online-Spiel esp-Game, das zum Ziel hatte, Abbildungen aus Google Images spielerisch zu verschlagworten. Bis 2006 taggten auf diese Weise 75 000 Spieler 15 Millionen Bilder. Die freie, kollaborative und kostenlose Verschlagwortung durch den Schwarm, das sogenannte Social Tagging, auch bekannt unter dem Begriff ‚folksonomy‘, ermöglicht somit in kurzer Zeit, eine beachtliche Sammlung an Schlagwörtern zu erstellen und große Datenmassen zu generieren.
Das von Luis von Ahn entwickelte Spielprinzip, für das dieser den Begriff „Games with a Purpose“ prägte, inspirierte Hubertus Kohle, Professor für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, zum Online-Spiel Artigo. Das auf zehn Jahre angelegte und von der DFG-geförderte Projekt entstand im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts Play4Science sowie unter Mithilfe der IT-Gruppe Geisteswissenschaften und dem Institut für Informatik. Es wendet sich, auf die Intelligenz der Masse bauend, nicht nur an Experten, sondern auch explizit an Laien.
60 Sekunden Datenbankfieber
Ziel des Spiels ist es, die Kunstwerke aus der Münchner Datenbank Artemis, die mittlerweile mehr als 30 000 Bilder enthält, zu verschlagworten. Zwei Mitspielern wird gleichzeitig eine Folge von fünf Abbildungen gezeigt, die sie jeweils innerhalb von 60 Sekunden mit möglichst aussagekräftigen Schlagworten versehen sollen. Keine Punkte erhält der Spieler, der noch nicht vergebene Tags eingibt. Fünf Punkte erzielt, wer in früheren Runden genannte Wörter matcht. Die meisten Punkte (25) werden vergeben, wenn die Schlagworte beider Spieler übereinstimmen. Die doppelte Eingabe verhilft jedoch nicht nur zum Punktegewinn, sie validiert auch ein genanntes Schlagwort. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass keine unsinnigen Worte oder Tippfehler übernommen werden. Falls solche doppelt eingegeben und somit verifiziert werden, sollen diese in einem zukünftigen Schritt mit Hilfe eines Thesaurus ausgefiltert werden. Hubertus Kohle hat Bedenken:
„Computerlinguisten haben große Wortdatenbanken; wir gehen davon aus, dass alle Worte, die nicht in dieser Wortdatenbank sind, falsch sein müssen. Bei Tippfehlern ist das natürlich der Fall. Das ist aber nicht ganz ungefährlich, denn es gibt tatsächlich ein paar Worte, die in dieser Datenbank nicht enthalten sind und die trotzdem Sinn machen.“
Laura Commare unterstreicht in ihrem Artikel „Social Tagging als Methode zur Optimierung Kunsthistorischer Bilddatenbanken – Eine empirische Analyse des Artigo-Projekts“ zudem, dass durchaus „intelligente Fehler“ gemacht werden können, wenn beispielsweise einem Liebermann der Begriff ‚Slevogt‘ zugeordnet wird.1
Durch das Prinzip der doppelten Validierung eines Wortes folgt Artigo dem von Luis von Ahn entwickelten Mechanismus des „symmetric verification game“, bei dem zwei Spieler parallel die gleiche Aufgabe ausführen. Am Ende einer Artigo-Partie werden die Metadaten der Bilder, d. h. Titel, Künstler, Aufbewahrungsort und Datierung angezeigt. Die eingegebenen Matches werden zusammengeführt, gespeichert und bilden so einen Schlagwortindex, der langfristig die Suche in der Datenbank verbessern soll. Durch die Einspeisung der Daten in das verteilte Bildarchiv Prometheus kommen diese auch Nicht-Münchnern zu Gute.
Paradies der Simulation
Neben Artigo kann derzeit ein weiteres Spiel, genannt Karido, über die Artigo-Homepage aufgerufen werden. Auch hier geht es darum, Kunstwerke mit Schlagworten zu versehen, dies entweder in einer zeit- oder in einer zugbegrenzten Variante. Beiden Mitspielern werden neun Werke präsentiert, die sie abwechselnd beschreiben oder erraten sollen. Das erfolgreiche Erraten des richtigen Bildes mit Hilfe der vom Mitspieler eingegebenen Schlagwörter folgt von Ahns Methode des „asymmetric verification game“, bei der Tags durch unterschiedliche Aufgaben – hier also Beschreiben und Erraten – verifiziert werden. Durch mögliche Rückfragen des Ratenden, die bei einer Bejahung des Beschreibenden ebenfalls in den Schlagwortindex aufgenommen werden, gestaltet sich Karido um einiges interaktiver als Artigo. Beide Spiele können derzeit auf Deutsch, Englisch und Französisch gespielt werden. Das angegliederte Blog bietet eine Plattform zum Austausch und informiert über „Games with a Purpose“. Eine integrierte Datenbank ermöglicht zudem direkt nach den Treffern zu schon validierten Begriffen zu suchen.
Seit kurzem kann auch gezielt mit Werken der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe gespielt werden, die Reproduktionen aus dem Bestand des Museums zur Verfügung stellt. Dies ist besonders für Studierende im Umkreis von Karlsruhe von Interesse, werden in mündlichen Prüfungen doch gerne Kunstwerke aus nahegelegenen Museen vorgelegt. Zudem winkt dem besten Spieler am Monatsende ein Buchgeschenk aus der Kunsthalle. Eine weitere Kooperation besteht mit dem Mead Art Museum at Amherst College, Massachusetts. Die Zusammenarbeit soll in erster Linie dazu beitragen, ein breites Publikum mit den Sammlungen vertraut zu machen. Durch die Aneignung der Werke am heimischen Computer, soll außerdem der Wunsch geweckt werden, diese im Original sehen zu wollen.2 Artigo bietet somit eine Möglichkeit, Bestand und Internetpräsenz der Museen stärker interaktiv zu verschränken. Kohle konstatiert, dass viele Einrichtungen dem noch zurückhaltend gegenüberstehen:
„Man hat den Eindruck, die Museen fühlen sich für das Original zuständig, während das Internet nur das Paradies der Reproduktion und Simulation ist. Diesen Gegensatz wollen sie nicht oder nur schwer überbrücken.“
Zurückhaltung zeigt selbst der Kooperationspartner Amherst, der seine Internetpräsenz offensichtlich lieber mit eigenen Inhalten füllt und derzeit keinen direkten Link zum Spiel bereitstellt.
In Zukunft könnte Artigo darüber hinaus von Museen genutzt werden, um gezielt mit denjenigen Spielern in Kontakt zu treten, die ihr Interesse an der jeweiligen Sammlung bereits durch ihr Spielverhalten bewiesen haben. Denkbar wäre deshalb, den Spielanreiz zukünftig zu vergrößern und Begegnungen zu schaffen, die die Bindung an die Institution weiter vertiefen. Hubertus Kohle jedenfalls ist der Überzeugung, dass „die Museen (…) heute solch eine Art von Öffentlichkeitsarbeit machen (müssen), um die Leute ins Museum zu locken.“
Die Tags und Reproduktionen der Museumsbestände werden jedoch wegen des Urheberrechts nicht in Artemis eingespeist, sondern in getrennten Datenbanken abgespeichert. Den Institutionen werden als Gegenleistung die Bildannotationen weitergereicht. Neben einer Verwendung zum internen Datenbankmanagement könnten diese ihnen zudem ermöglichen, ein genaueres Bild der Reaktionen auf ihre Sammlung zu zeichnen.
Zunehmend findet Artigo auch Erwähnung in der Presse, zuletzt berichtete sogar Spiegel Online. Derzeit zählt Artigo ca. 10 000 Mitspieler, von denen ca. 4 000 über einen eigenen Account verfügen. Nach Auskunft von Hubertus Kohle liegen bisher knapp eine Million Matches vor, zudem wurden knapp 5 Millionen Tags vergeben:
„Die Tags können später geerntet werden. Vielleicht wird in fünf Jahren, wenn das Bild zum 300. Mal gespielt wird, ein Zweiter denselben Begriff eingeben. So lange schlummern sie unerkannt.“
Somit zahlt es sich besonders bei komplexen und selteneren Begriffen aus, dass alle vergebenen Annotationen gespeichert werden, da sie für die kunsthistorische Arbeit von Interesse sein können. Bei einer genaueren Betrachtung der Zahlen zeigt sich, dass die Museums-Kooperationen auch für Artigo von großem Nutzen sind, denn sie ermöglichen den Bildbestand kontinuierlich zu erweitern:
„Wir verfügen jetzt über ca. 35 000 Bilder. Bei 1 Millionen Matches heißt das, dass im Durchschnitt pro Bild schon 30 Matches vergeben wurden. Die Bilder sind also schon ein wenig verbraucht.“
Eine Arbeit für Experten
Dass die heute zahlreichen digitalisierten Reproduktionen aus den Museums- und Universitätsdatenbanken für eine ergebnisreiche Suche nach Kriterien geordnet und am besten ikonographisch verschlagwortet sein sollten, ist keine neue Forderung. Die Flexibilität der Eingabeform sowie der freie Umgang mit Beobachtungen und kunsthistorischem Wissen auf Artigo ermöglichen es jedoch einer größeren Personengruppe, an deren Bearbeitung mitzuwirken und könnten möglicherweise gleich neue Erkenntnisse mitliefern. Im Gegensatz zur freien Eingabe des Social Tagging bedient sich die professionelle Datenbankbetreuung an kunsthistorischen Instituten, in Museen, Kunst- oder Forschungsinstituten meist hierarchisch organisierter Klassifizierungssysteme. Eines der bekanntesten Klassifizierungssysteme für Kunst und Ikonographie und nach eigenen Angaben: “the most widely accepted scientific tool for the description and retrieval of subjects represented in images” ist das holländische System Iconclass.
Iconclass wurde in den 1950er Jahren von Henri van de Waal, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Leiden, entwickelt und in den 70er und 80er Jahren von einer Gruppe von Wissenschaftlern fertig gestellt. Die Universität Utrecht erstellte in den 90ern eine erste Computerversion. Im September 2006 hat das niederländische Institut für Kunstgeschichte (Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie, kurz RKD) in Den Haag die Iconclass Software erworben und übernimmt seither die Weiterentwicklung. Ein von Wissenschaftlern erarbeitetes und strukturiertes Schlagwortvokabular bietet ebenfalls der Art & Architecture Thesaurus® (AAT) des Getty Instituts, dessen Entstehung ebenfalls in die 70er fällt.
Einen Mittelweg zwischen hierarchisch organisierten Kategorien, Crowdsourcing und Social Tagging geht das britische Projekt Your Paintings. Die verantwortliche Public Catalogue Foundation stellt bisher mittels einer Datenbank 160 000 Gemäldereproduktionen aus den nationalen britischen Ölgemäldesammlungen vor. Bis Ende 2012 sollen sie auf 200 000 anwachsen. 80% der bisher digitalisierten Werke sind exklusiv online zu sehen, da sie derzeit nicht öffentlich zugänglich sind. Jede Werkangabe kann durch einen Klick auf „Art Detective“ vervollständigt werden, die eingegebenen Daten werden anschließend an die zuständige Institution geleitet, geprüft und ggf. online gestellt. Auch die Public Catalogue Foundation erachtet für die zukünftige wissenschaftliche Bearbeitung der Sammlung eine Verschlagwortung nach ikonographischen Kategorien für notwendig. Deshalb sind die User aufgerufen, die Kunstwerke während der 18-monatigen Laufzeit des Projektes unter der Rubrik „Your Paintings Tagger“ zu verschlagworten und zu klassifizieren. Bisher haben 6375 Tagger insgesamt 1 980 118 Tags vergeben. Auch hier werden alle Einträge nach der Eingabe nochmals durch ein Computerprogramm kontrolliert und ggf. korrigiert. Den Usern ist es möglich, freie Eingaben zu tätigen, die jedoch nicht die bereits eingegebenen Titel oder Namen des Künstlers enthalten dürfen. Daraufhin schlägt das Programm präzisere Schlagworte vor und bittet, dargestellte Objekte, Konzepte, Personen oder Anlässe zu benennen.
Im Vergleich mit Artigo handelt es sich also um eine deutlich stärker gesteuerte Vorgabe, die die einzugebenden Daten organisiert, hierarchisiert und ein kunsthistorisches Fachvokabular vorgibt. Somit fehlt der spielerische Charakter hier gänzlich – den einzigen Anreiz stellt eine regelmäßig aktualisierte Bestenliste dar. Der gute Zweck sowie die tiefere Auseinandersetzung mit den Bildern werden zur Hauptmotivation.
Viele Wissenschaftler begegnen dem Münchner Projekt trotz des immer weiter verbreiteten Social Tagging Ansatzes, der vorzuweisenden Zahlen und der zunehmende Beteiligung der Netzgemeinde mit einer skeptischen Haltung. Kohle macht als ernstzunehmendes Problem den Konflikt zwischen Experten- und Laienkultur
aus:
„In einigen Fällen, beispielsweise bei der Verschlagwortung von Datenbanken, ist das Wissen der Laien, wenn man es addiert und intelligente Crowdsourcing-Verfahren nutzt, nicht sehr weit entfernt vom Expertenwissen. Damit will ich den Experten nicht ihre Fähigkeit absprechen, ein komplexes Argumentationsgefüge zu einem Thema zu erstellen. Aber all das würden sie nicht in eine Bilddatenbank einbringen. Implizit schwingt der Vorwurf mit, dass wir die wenigen Arbeitsplätze für Kunsthistoriker in der Bilddatenbankbearbeitung zerstören. Auch das Bloggen wird den Journalismus verändern. Aber es hat keinen Zweck zu glauben, dass man dies aufhalten kann. Man muss sich neu definieren, das gilt auch für Bilddatenbanken.“
Für Nele Putz geht es sogar darum, „dass unser erstes Interesse sein muss, die Kunstgeschichte als Wissenschaft voranzubringen, nicht die Kunstgeschichte als Lieferanten von Arbeitsplätzen.“3
Wie intelligent ist das Kollektiv
Gerade für Wissenschaftler stellt sich die grundlegende Frage, wie nutzbringend die von Laien erstellten Schlagworte ausfallen. Laure Commare befasste sich 2011 in einer ersten Studie mit der Auswertung der bisher gewonnenen Artigo-Daten und ging der Frage nach, ob Social Tagging grundsätzlich geeignet ist, qualitativ hochwertige Daten zu produzieren4. Unter hochwertig versteht Commare diejenigen Daten, die wissenschaftlichen Anforderungen gerecht werden und somit letztendlich den professionell erzeugten entsprechen. Spezifisch für das Tagging ist, dass erst die Summe der stattgefundenen Prozesse einen Schlagwortkatalog bildet. An dessen Erstellung sind somit zahlreiche Menschen beteiligt, die zudem nicht miteinander kommunizieren können. Aus diesem Grund interessierte sich Commare für die kollektive Intelligenz von Gruppen.
Commares Untersuchung beginnt bei Francis Galton, dem Urvater der theoretischen Annahme der ‚Weisheit der Vielen‘, der das Phänomen schon 1906 auf einem Wettbewerb entdeckte, bei dem das Gewicht eines Ochsen geschätzt werden sollte. Die Vermutungen der Schätzer, darunter viele Laien, deckten ein breites Spektrum ab. Der ermittelte Durchschnittswert lag jedoch nur 500 Gramm neben dem tatsächlichen Gewicht. Nach Commare zeigt sich schon bei dieser Beobachtung, „dass die oft fehlerhaften Einzelschätzungen im Durchschnitt der Masse neutralisiert werden.“5 Commare geht weiter auf die Voraussetzung der kollektiven Intelligenz nach James Surowiecki und Scott Page ein, die von Artigo erfüllt werden.6 Diese stellten vier Kriterien auf, die zur Erlangung von intelligenten Ergebnissen unabdingbar sind. Demnach ist eine Diversität der Meinungen notwendig, die Unabhängigkeit dieser Meinungen muss gewährleistet sein, Ergebnisse müssen in einem dezentralen Prozess entstehen und von einem geeigneten Werkzeug gebündelt werden.7 Zudem bezieht Commare das kognitionspsychologische Modell des Fächereffekts in ihre Überlegungen ein, das nach Anderson eine verlängerte Abrufzeit von Wissen bezeichnet, die dadurch ausgelöst wird, dass verschiedene Informationen zu stark untereinander verknüpft sind.8 Demnach können Experten, die über einen großen Wissenshorizont verfügen, Teilinformationen leicht als gegeben voraussetzen und dazu tendieren, diese nicht explizit zu nennen. Für die Autorin legitimiert dies sowohl das Einbeziehen von Laien, als auch die Annahme der kollektiven Intelligenz. Zudem wertete sie eine Datenerhebung zu Artigo aus, an der insgesamt 168 Personen teilnahmen und untersuchte sie zusammen mit bereits gewonnenen Spieldaten.9 Die Studie weist darauf hin, dass weder Geschlecht, noch Alter oder Schulbildung einen entscheidenden Einfluss auf die Interpretationsleitung und die thematische Begriffswahl haben.10 Festzuhalten ist jedoch, dass Personen mit niedriger Bildung mehr inhaltliche Begriffe, als beschreibende vergeben.
Besonders von Interesse sind an dieser Stelle jedoch Commares Ergebnisse zum Einfluss des Experten- und Laienwissens auf die Qualität der Artigo-Daten. Als Experten wurden diejenigen Probanden eingeordnet, die ein kunstgeschichtliches Studium absolvieren oder bereits absolviert hatten. Zudem wurden Angaben der Kunsthistoriker zur eigenen Kompetenz berücksichtigt.11 Die Ergebnisse zeigten, dass sich die thematische Begriffswahl von Experten und Laien deutlich unterscheidet. Fachkenntnis ermöglichte demnach die Nennung des korrekten Künstlernamens und eine sichere Datierung. Laien mit niedrigem Schulabschluss machten öfter falsche Zeitangaben, als Laien mit Hochschulabschluss jedoch ohne kunsthistorische Ausbildung. Weitere Unterschiede wiesen Farbbeschreibungen auf: Experten nannten häufiger rote Farbanteile, Laien hingegen dunkle. Commare schloss aus der statistischen Analyse, dass sich sowohl Laien als auch Experten mit Eindrücken, die ein Bild vermittelt – also Interpretationsleistungen – beschäftigen.12 Die Gewichtung zwischen beiden Gruppen variierte jedoch leicht je nach Untersuchungsgegenstand. Zudem ist zu erkennen, dass sich die von Experten verwendeten Begriffe öfter wiederholen, als die von Laien. Während Experten beispielsweise für Jacques Louis Davids „Napoleon überquert die Alpen am großen St. Bernhard“ insgesamt 64 verschiedene Schlagwörter vergaben, waren es bei der Laien-Gruppe 293 unterschiedliche Begriffe. Dies könnte auf eine standardisierte Vorgehensweise bei der Bildbetrachtung und ein normiertes Vokabular der Kunsthistoriker zurückzuführen sein,13 denn die weniger geübten Laien nutzen eine größere Begriffsvielfalt. Laut Commare zeigt die Studie somit, dass eine möglichst sozio-demographisch und fachlich heterogene Gruppen einen umfassenden und qualitativ hochwertigen Schlagwortindex bilden kann.14 Besonders interessant ist ihre Feststellung, dass sich „für die Artigo-Anwendung eine Art Gruppenwortschatz herausbildet“,15 den sie aufgrund der unterbundenen Kommunikation auf die Punktvergabe zurückführt. Dies ist besonders erstaunlich, ist doch im Gegensatz zu professionellen Klassifizierungssystemen ein Hauptvorwurf gegenüber der Social Tagging-Anwendungen, dass ihnen jeglicher Rückgriff auf ein zentral verwaltetes Vokabular fehlt und noch keine etablierte Methode des gemeinschaftlichen Indexierens existiert. Diese Uneinheitlichkeit kann natürlich zu sich doppelnden Begriffen führen, zum Beispiel bei ‚Selbstporträt‘ und ‚Selbstbildnis‘, ‚Baum‘ oder ‚Bäume‘. Es bleibt also abzuwarten, ob sich durch die Spielerfahrung letztlich ein verbindliches Vokabular herausbildet, das in der Lage ist, diese Dopplungen zu vermeiden. Interessant wäre es außerdem zu ermitteln, wie nützlich die Begriffsvielfalt der Laien für eine kunsthistorische Recherche ist.
Neue Herausforderungen
Mit Hilfe von Leitfaden-Interviews mit vier Artigo-Spielern und einem Abgleich mit den gesammelten Daten hatte Commare bereits 2011 den Nutzen einer Artigo-Version mit sogenannten Tabuwörter untersucht,16 die im kommenden Jahr wieder spielbar sein soll. Angelehnt an das esp-Game werden Tabuwörter eingeführt, welche von den Spielern vermieden werden müssen. Kohle möchte versuchen, „die Leute zu zwingen, sich neue Worte auszudenken. Dies vor allem damit nicht immer die gleichen trivialen Basisbegriffe kommen, wie ‚Frau‘ oder ‚Mann‘.“ Als positive Aspekte nannten die Teilnehmer an Commares Studie in der Tat, dass die Tabu-Funktion dazu anrege, hochwertigere Begriffe einzugeben, wobei sie wohl ebenfalls dazu verführe, nach Synonymen der bereits genannten Tabuwörter zu suchen. Negative Auswirkungen entstehen zudem, indem weniger sinnvolle Details oder tendenziell unzutreffende Worte eingegeben werden, dies besonders bei Ortsbeschreibungen, Epochen und Künstlern.17 Auch die Auswertung der Artigo-Zahlen verdeutlichte, dass mit Zunahme der Tabuwörter tendenziell weniger wertvolle Detailbeschreibungen steigen, wie beispielsweise ‚Nase‘, ‚Augenbrauen‘ oder ‚Mund‘.18 Insgesamt konstatiert Commare jedoch einen positiven Einfluss der Tabuwörter.19 Es bleibt also zu hoffen, dass möglichst viele Spieler das Gesamtziel des Spiels im Auge behalten und stärker darauf bedacht sind, hochwertige Wörter zu vergeben, als einen kurzfristigen Punktevorteil zu erzielen.
Um die Qualität der Schlagwörter zu verbessern und etwaiger Langeweile der Spieler vorzubeugen, soll zudem ein neues Spiel namens „Tag a Tag“ geschaltet werden, bei dem bereits gematchte Schlagwörter zusammenzufassen sind. Auf diese Art sollen semantisch höherwertige Annotationen entstehen, indem beispielsweise einzeln eingegebene Begriffe, wie ‚schwarz‘ und ‚Hut‘ zu einem ‚schwarzen Hut‘ gebündelt werden. Ferner interessieren sich auch die Münchner für die derzeit sehr beliebte ‚sentiment analysis‘, bei der Gefühle oder Einschätzungen der User ermittelt werden. Mit Hilfe einer bereits integrierten sogenannten ‚timestamp‘, die den Zeitpunkt der Eingabe festhält, kann beispielsweise die Eingabereihenfolge der Begriffe bestimmt und anschließend ausgewertet werden.20 Diese Analysen sollen neue Daten für eine interdisziplinär ausgerichtete Kunstgeschichte und angrenzende Disziplinen liefern und das Tagging-Verhalten der Nutzer näher untersuchen. Somit könnte beispielsweise ermittelt werden, warum manche Bilder öfters mit Farbangaben versehen werden oder ob die Komposition Auswirkungen auf das Erleben der Bilder hat.
Da diese Funktionen jedoch erst in naher Zukunft spielbar sein werden, soll an dieser Stelle abschließend kurz der Nutzen der bereits geschalteten Spiele Artigo und Karido diskutiert werden. Eine Analyse der Benutzeroberfläche hat jüngst Sabine Scherz vorgelegt und soll hier deshalb ganz ausgeklammert werden. Trotz der willkommenen Einbeziehung von Laien, bleibt eine der Hauptzielgruppe von Artigo und Karido weiterhin die der Studenten der Kunstgeschichte, welche sich mit Hilfe der Spiele auf Prüfungen vorbereiten können. So schreibt Kohle:
„Speziell Studierende des Faches sind auf eine umfangreiche Denkmälerkenntnis angewiesen, wenn sie im Studium Erfolg haben wollen. Wir sind der Überzeugung, dass sie sich die Werke besser einprägen, wenn sie zunächst begrifflich mit ihnen arbeiten (also „taggen“) und sie dann noch einmal mit den genannten Daten vorgeführt bekommen.“21
Wie bei zahlreichen online Angeboten gilt hierbei jedoch zu beachten, dass aufgrund der Problematik der Bildrechte, nur Abbildungen von Werken derjenigen Künstler zur Verfügung gestellt werden können, die bereits seit 70 Jahren verstorben sind. Es wäre sehr begrüßenswert, wenn in Zukunft Museen mit einer Sammlung zeitgenössischer Kunst im Rahmen einer Kooperation Reproduktionen dieses Zeitraums bereitstellen und somit diese Lücke füllen würden. Im Hinblick auf eine bestmögliche Vorbereitung für Studierende wäre es zudem wünschenswert, wenn bei den nach einem Spiel angezeigten Metadaten auch die Technik vermerkt werden würde. Somit könnten die Spieler, besonders bei weniger eindeutigen Gattungen wie der Druckgrafik, ihre in der kurzen Zeit der Partie gesammelten Eindrücke, im Nachhinein zeitnah und -sparend überprüfen. In der Tat ist es erstrebenswert, wenn auch diejenigen Bilder verschlagworten, die die Datenbank tatsächlich regelmäßig nutzen. Aufgrund der individuellen Rechercheerfahrungen können (angehende) Kunsthistoriker leichter mögliche Desiderata ausmachen und die fehlenden Schlagwörter gezielt eingeben. So fehlt vielen Abbildungen beispielsweise der Begriff ‚Zeigegestus‘, der für eine ikonographische Suche, durchaus von Interesse sein könnte. Beim Spielen sollte man sich also, trotz Zeitdruck und Blick auf die Bestenliste, in Erinnerung rufen, dass die Annotationen einem guten Zweck dienen und auch nuancierte Begriffe kontinuierlich eingeben, selbst wenn diese noch keine Punkte einbringen. Ein weiterer Nutzen für Studierende besteht in der Möglichkeit des Sprachtrainings. Die englische und französische Versionen verfügen zwar derzeit über weniger vergebene Schlagwörter als die deutsche, bieten jedoch bereits eine befriedigende Ausgangsbasis. Leider scheint bisher die Zielgruppe eher schlecht über die Regeln und Vorteile des Spiels informiert zu sein.
Ein willkommener Nebeneffekt des Spiels wäre natürlich, wenn durch die Einbeziehung der breiten Öffentlichkeit „(d)er Gegenstand der Kunstgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin (…) somit auch einer Öffentlichkeit vermittelt werden (kann), die sich darunter gewöhnlich wenig vorstellen kann.22 Kurzum, Artigo bleibt ein sinnvoller und unterhaltsamer Zeitvertreib und das Sociel Tagging, trotz bestehender Vorbehalte, vielleicht die derzeit gangbarste Lösung, um die aus den zahlreichen Digitalisierungsprojekten gewonnenen Datenmassen zeitnah zu verschlagworten. Und dies mindestens bis eine Software, die eine automatische Inhaltserkennung und –analyse leisten kann, entwickelt ist.
Auf die Frage, warum manche Spieler bis zu 20 Stunden wöchentlich kostenlos Bilder des esp-Game verschlagworteten, hatte Luis von Ahn 2006 eine überraschende Antwort parat: Aus den Rückmeldungen ließ sich ablesen, dass Menschen das Spiel mochten, weil sie eine besondere Verbindung zu ihrem unbekannten Mitspieler fühlten, die anonyme Intimität genossen und dass ihre Glücksgefühle besonders stark ausfielen, wenn beide bei einem unerwarteten Begriff übereinstimmten. Also fleißig Artigo spielen – vielleicht findet auch Ihr wunderbare Mitspieler!
- Commare, Laura: „Social Tagging als Methode zur Optimierung Kunsthistorischer Bilddatenbanken – Eine empirische Analyse des Artigo-Projekts“. In: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2011. URL: http://www.kunstgeschichte-ejournal.net/160/1/Laura_Commare_Social_tagging_als_Methode.pdf. Stand: 29.03.2012 ↩
- Kohle, Hubertus: „Social Tagging von Kunstwerken oder: Wie bringe ich junge Leute dazu, ins Museum zu gehen“, in: Museum Aktuell, 161/ August 2009, S. 14-15. ↩
- Putz, Nele: „Artigo Social Image Tagging: Ein Kunstgeschichtsspiel zur Optimierung von Bilddatenbanken“, 2008. URL: http://www.akmb.de/web/pdf/herbst2008/Putz.pdf. Stand 28.03.2012. ↩
- COMMARE 2011 (wie Anm.1) ↩
- Ebd. 11. ↩
- Ebd. 11 und 12. ↩
- Zur ‚Weisheit der Massen‘ siehe auch Kohle, Hubertus: „Crowdsourcing in der Wissenschaft. Wie die Massen zum Wissenschaftler werden“, in: Telepolis, 18.1.2012: http://www.heise.de/tp/artikel/36/36239/1.html. Stand: 28.03.2012. ↩
- COMMARE 2011, 19. ↩
- Ebd. 21. ↩
- Ebd. 22-31. ↩
- Ebd. 32. ↩
- Ebd. 33-35. ↩
- Ebd. 37. ↩
- Ebd. 46. ↩
- Ebd. 44. ↩
- Ebd. 38. ↩
- Ebd. 40. ↩
- Ebd. 41. ↩
- Ebd. 42. ↩
- Kohle, Hubertus: „Kunstgeschichte goes Social Media. Laien optimieren eine Bilddatenbank – mit einem digitalen Spiel“, in: Aviso. Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern, 3/2011, S. 37-43, hier S. 43. URL: http://www.stmwfk.bayern.de/mediathek/pdf/aviso_3_11.pdf. Stand 31.03.2012. ↩
- KOHLE 2011, S. 41 (wie Anm. 20). ↩
- PUTZ 2008 (wie Anm. 3). ↩
Pingback: artefakt - Zeitschrift für junge Kunstgeschichte und Kunst « FSR Kunstgeschichte