„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“, so steht es im Grundgesetz Art. 5 Abs. 3 der Bundesrepublik Deutschland geschrieben. Die hier gesetzlich garantierte Kunstfreiheit bringt ein grundlegendes Problem mit sich: Kunst darf rechtlich nicht definiert werden, da sie frei ist. Die im Grundgesetz verankerte Kunstfreiheit resultiert aus der deutschen Vergangenheit. Artikel 142 der Weimarer Verfassung besagte – ähnlich Art. 5 Abs. 3 GG –, die „Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.“ Auf den darauf folgenden Satz wurde im Grundgesetz bewusst verzichtet: „Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.“ Eine Wertung von Kunst seitens des Staates darf nun nicht mehr erfolgen. Grund dafür ist das Eingreifen des Staates in die Kunstfreiheit in der Zeit des Nationalsozialismus, der sie stark einschränkte. Kunst war nicht länger autonom, sondern in den Dienst des NS-Regimes und dessen Rassenideologie zu stellen. Bücherverbrennungen, Auftritts- oder Ausstellungsverbote sowie die immense Herabwürdigung zahlreicher Künstler und ihrer Werke in dieser Zeit waren ausschlaggebend für die Entscheidung, den zweiten Satz des 142. Artikels der Weimarer Verfassung nicht zu übernehmen.
Trotz der heute gültigen Kunstfreiheit sehen sich Juristen gezwungen, Kunst des Öfteren definieren zu müssen. Ein Beispiel hierfür sind Streitigkeiten um das Urheberrecht. Dabei geht es darum, Kunst in das Rechtssystem einzubauen und Künstlern Rechte zu geben, wie der Kunstrecht-Experte Dr. Nicolai Kemle sagt. Das Urheberrecht schützt freie, geistige, eigene Schöpfungen und muss auf einen Menschen zurückgeführt werden können. Dabei ist die Ausbildung des Menschen, zum Beispiel ein Kunststudium, nicht entscheidend. Einen Ausnahmefall bildet hier lediglich die Künstlersozialkasse, die dafür sorgt, dass selbständige Künstler und Publizisten einen ähnlichen Schutz der gesetzlichen Sozialversicherung genießen wie Arbeitnehmer.
Dürer und die Folgen
Die Idee des künstlerischen Urheberrechts entwickelte sich vor allem in der Renaissance. 1506 kam es in Venedig zum ersten urheberrechtlichen Prozess der Kunstgeschichte. Der Kläger war damals niemand Geringeres als Albrecht Dürer, Marcantonio Raimondi der Angeklagte. Grund für den Rechtsstreit war nicht die Tatsache, dass Raimondi Motive aus Dürers Holzschnitten oder gar ganze Schnitte kopierte, sondern darüber hinaus selbst dessen heute berühmt gewordene „AD-Signatur“ übernahm. Dass sich Künstler an gelungenen, hochwertigen Werken ihrer Kollegen schulten, war nicht ungewöhnlich; die Kopien Raimondis konnten Dürer daher quasi schmeicheln. Das Problem lag für den Nürnberger Künstler vielmehr in Raimondis Arbeitsweise: Raimondi übertrug Dürers Holzschnitte, die in ihrer Qualität bis heute singulär sind, in der Technik des Kupferstichs – einer Technik, die es einfacher macht als in Holzschnitten, filigran zu arbeiten. Mitsamt der Übernahme der Signatur fühlte sich Dürer herabgewürdigt. Vor dem Venezianischen Gericht konnte Dürer sein Anliegen durchsetzen: Raimondi durfte weiterhin die Holzschnitte des Deutschen kopieren, allerdings musste er auf die Übernahme des bekannten Monogramms verzichten.
Dieses Urteil ist aussagekräftig für das sich entwickelnde (Selbst-)Bild des Künstlers zu jener Zeit. Nachdem es in der Antike bereits den Ansatz eines Geniebegriffs hinsichtlich des Künstlers gegeben hatte, kam in der Renaissance – durchaus zeittypisch mit Rückbezug auf die Antike – das Verständnis des Künstlers als Genie zu besonderer Blüte. Der Künstler wurde statt als reiner Handwerker immer mehr als Schöpfer, Erfinder und Entdecker verstanden: ein Ausnahmemensch mit höchster schöpferisch-geistiger Begabung. Diese Vorstellung festigte sich besonders seit der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts, beispielsweise in Kants Kritik der Urteilskraft aus dem Jahr 1790, bei Shaftesbury oder auch bei Schopenhauer und Nietzsche. Diese Vorstellungen prägten lange Zeit – durchaus auch noch heute – die Auffassung in der westlichen abendländischen Kultur, dass Künstler beziehungsweise deren Kunstwerke originell, neu und autonom sein sollten.
Recht auf Freiheit
Da die fachliche Ausbildung des Schöpfers heutzutage in Deutschland nicht als Kriterium für Kunst greift, kann dann das Niveau des Werkes ausschlaggebend? „Eine Definition nach Niveau eines Werkes ist juristisch nicht zu treffen. Kunst hat rechtlich gesehen kein Niveau“, erklärt Kemle. Eine Suche nach Allgemeingültigkeit einer Kunstdefinition scheint unmöglich zu sein, schließlich ist die oberste Prämisse von Kunst ihr Recht auf Freiheit wie es im Grundgesetz festgelegt wurde. Hierbei sind zwei Kategorien von Freiheit zu beachten: der Werkbereich, Kunst frei zu schaffen, und der Wirkbereich, Kunst frei zeigen zu dürfen. Lediglich zwei Einschränkungen sind vorhanden, nämlich der Schutz der Grundrechte Dritter, sogenannte „hohe Kämpfe“ um den Jugendschutz oder das Persönlichkeitsrecht, sowie „untere Kämpfe“, die beispielsweise eine Konkurrenzsituation im Steuerrecht betreffen können. Diese Einschränkungen beziehen sich also auf einen Streit zwischen zwei Parteien oder Interessengruppen, durch den sich die Rechtsprechung zu einer Kunstdefinition gezwungen sieht. In solchen Fällen wird durch die Rechtsprechung der Versuch einer Annäherung an den Begriff der Kunst unternommen, indem eine Ausfüllung dessen mit anderen Begriffen und Wörtern versucht wird. Der Ansatz, ein Lösung zu finden, liegt demnach im Versuch einer Beschreibung von Kunst: „Wir haben Kunst, fragen uns aber zwangsläufig, was Kunst ist.“
In der sogenannten „Mephisto-Entscheidung“ von 1971 ging der erste Senat des Bundesverfassungsgericht auf die Bedeutung der Kunstfreiheit ein und definierte erstmals den Begriff „Kunst“ aus verfassungsrechtlicher Perspektive: Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung sei „die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden“. Diese unpräzise Kunstdefinition, die eher eine Beschreibung als eine Definition ist, stellt einen materiellen Kunstbegriff dar. Ein grundlegendes Problem juristischer Annäherungen an einen allgemeingültigen Kunstbegriff ist die Gefahr des Ausuferns – wenn jede schöpferische Leistung eines Menschen Kunst ist, könnte Kunst (fast) alles sein. Das hätte jedoch eine extreme Ausweitung des Urheberrechts und damit vermutlich einen enormen Anstieg von Auseinandersetzungen vor Gericht zur Folge.
Deckmantel Kunst?
Ein Künstler, der seit einigen Jahren vor allem in Deutschland für Aufmerksamkeit sorgt, erregte kürzlich einmal mehr mediale Aufmerksamkeit: Jonathan Meese. Der Berliner musste sich in Kassel vor Gericht verantworten. Dabei ging es um die Freiheit der Kunst. Meese zeigte im Sommer 2012 mehrmals den „Hitlergruß“ im Rahmen der „Spiegel-Gespräche“, einer Veranstaltungsreihe des Hamburger Nachrichtenmagazins. In der als Interview zum Thema „Größenwahn in der Kunst“ angekündigten Veranstaltung im Vorfeld der documenta reckte Meese wiederholt seinen rechten, ausgestreckten Arm – die Verwendung dieser Geste, die zur Zeit des Nationalsozialismus im „Dritten Reich“ eine verpflichtende Grußform zu Ehren Hitlers war, ist laut § 86a (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) sowie § 130 (Volksverhetzung) des Strafgesetzbuchs unter Strafe gestellt. Meese wurde angezeigt und musste sich vor dem Amtsgericht Kassel verantworten. Dabei ging es aber nicht nur um den Vorwurf der Volksverhetzung, sondern vielmehr auch um die Freiheit der Kunst: Was ist unter dem Deckmantel der Kunst erlaubt, was ist strafbar?
Meese wurde freigesprochen. Entscheidend war hierbei laut Gericht, dass das Podiumsgespräch eindeutig den Charakter einer Kunstperformance gehabt hätte und daher Meeses außerhalb der Kunst verbotene Gesten durch das Recht auf Kunstfreiheit gedeckt und somit straffrei seien. Enrico Weigelt, Staatsanwalt in Kassel, zur Causa Jonathan Meese: „Kunstfreiheit wird nicht grenzenlos gewährt.“ Zudem sagte Weigelt, dass Meese den zu Recht verbotenen „Hitlergruß“ wieder „salonfähig“ machen wolle und damit den politischen Frieden in Deutschland gefährde: „Hier die Diktatur der Kunst, dort die Diktatur durch Menschen – das ist sich durchaus ähnlich.“ Allerdings ist das letzte Wort über Meeses „Hitlergrüße“ und die damit verbundene Problematik der Kunstfreiheit noch nicht gesprochen. Auch in Mannheim wird gegen ihn wegen besagter Geste ermittelt. Wie in Kassel führte Meese bei seiner Performance „Generaltanz den Erzschiller“ am Nationaltheater Mannheim während einer Rede über die „Diktatur der Kunst“ die Armbewegung mehrfach aus. Ob die Kasseler Entscheidung als Präzedenzfall dient, wird sich zeigen.
Ein weiteres Problem der Rechtsprechung betrifft Fragen, die mitunter auch in kunsthistorischen Debatten auftauchen: Ist schon eine Idee das Kunstwerk oder erst deren Ausformung? Weiter gedacht ergibt sich ein zusätzlicher Aspekt: Ist die eigentliche Aktion beziehungsweise das Happening das Werk oder auch deren Dokumentation? Auch hier gibt es juristisch gesehen keine Eindeutigkeit; es gilt von Fall zu Fall zu unterscheiden und zu hinterfragen.
Kunst kann (fast) alles sein, solange sie eine schöpferische Leistung eines Menschen ist. Der Versuch eines Fazits: In dubio pro libertate – im Zweifel für die Freiheit?