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Kubismus reloaded

„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, sagte bereits Aristoteles. Nachdem diese Erkenntnis zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Anschluss an Goethe etwa mit Christian von Ehrenfels zum Leitmotiv der Gestalttheorie wurde, ist sie heute die Grundlage einer Studie zu Perspektive und Wahrnehmung von Dreidimensionalität. Film und Fotografie schaffen neue Möglichkeiten der Wahrnehmung: Eine Fotografie beispielsweise kann immer nur einen Teil oder eine Ansicht eines Objektes, eines Raumes oder eines Momentes erfassen, der gewählte Ausschnitt kann hierbei aber zum autonomen Kunstwerk werden – der Teil eines Ganzen wird so selbst zu einem neuen ‚Ganzen‘. Einen dreidimensionalen Raum anhand eines zweidimensionalen Mediums – der Fotografie – so darzustellen, dass man von ganzheitlichem Erleben des Dreidimensionalen und gleichzeitig von einem autonomen zweidimensionalen Kunstwerk sprechen kann, erscheint somit zunächst als unlösbare Aufgabe.

Trotz dieser Vorbehalte haben sich Studierende des Instituts für Darstellen und Gestalten der Universität Stuttgart unter der Leitung von Siegfried Albrecht und Boris Miklautsch über ein Jahr lang dieser Aufgabe der Architekturfotografie gewidmet. Die Wahl des Schauplatzes für das Projekt fiel auf den Schwetzinger Schlossgarten, der durch die Verbindung verschiedener Elemente der Gartenkunst eine große Vielfalt an perspektivischen Beobachtungen und unerwarteten Szenerien bereithält. Die Studenten fotografierten den Schlossgarten im Wechsel von Tages- und Jahreszeiten, Witterungszuständen und verschiedenen Standpunkten, Nah- und Fernsicht – frei in der Wahl ihrer Objekte und Themen. Die einzeln gewonnen Teileindrücke und geschaffenen Bildsequenzen wurden dann zu einem Ganzen zusammengefügt: zum einen in den einzelnen Werkmontagen selbst, zum anderen in der gemeinsamen Präsentation der unterschiedlichen Herangehensweisen an die gestellte Aufgabe. Das Ergebnis ist die Ausstellung „Bild Zeit Raum – Bildräume der Gartenkunst im Schwetzinger Schlossgarten“.

Stefan Stuchlik bannt durch Montage drei Ansichten in ein Bild.

Bewegung und Stillstand

 

Der von Nicolas de Pigage und Friedrich Ludwig von Sckell gestaltete Schwetzinger Schlossgarten, durch den der Weg zur Ausstellung führt, ist als genius loci für dieses Projekt prädestiniert. Seine charakteristische Verbindung zweier gegensätzlich erscheinenden ästhetischen Raumauffassungen – dem geometrisch geprägten formalen Garten und dem natürlich anmutenden Landschaftsgarten – bot den Studierenden vielschichtige Bildräume zur Beobachtung.

Der im 18. Jahrhundert angelegte Schlossgarten vereint sowohl spätbarocke, geometrische Formen nach französischem Vorbild, als auch die natürlichen Formen eines Landschaftsgartens englischer Prägung. Im Park findet sich die barocke Anlage im kreisförmigen Parterre-Garten vor dem Schloss, der unter anderem durch den in der Mittelachse positionierten Arionsbrunnen bewusst gegliedert wird. Im Barock galt der Garten als Fortführung der Architektur im Freien, Lustgärten wurden in unmittelbarer Nähe zu Villen und Schlössern angelegt.

Die unregelmäßige Anordnung von Bäumen, sich schlängelnde Wege und Symmetrie-Brüche waren hingegen die Grundlage des Landschaftgartens. In Schwetzingen findet man den Landschaftsgarten in den nördlichen und westlichen Teilen des Gartenareals. Ein scheinbar natürlich ondulierender Fluss inmitten einer malerischen Baumlandschaft, der den Blick zu der Ruine eines römischen Wasserkastells lenkt, ist hierfür ein typisches Motiv.

Diese beiden unterschiedlichen Raumauffassungen, die formale, geordnete des Barocks und die unregelmäßige, freie des Klassizismus bieten im Schwetzinger Schlossgarten also eine Synthese von Bewegung und Stillstand, auf welcher die Studenten aufbauen konnten.

Der Blick des Betrachters

Nachdem der Besucher auf seinem Weg zur Orangerie den Gegenstand der Ausstellung vor der eigentlichen Ausstellung inspizieren konnte, irritiert die Präsentation zunächst. Im Kontrast zur Formenfülle des Gartens hängen an einer einzigen langen Wand in strenger Reihung die Bilder, der Raum wirkt beinahe leer. Nimmt man nun den Katalog zur Hand, von dem ein Exemplar griffbereit am Eingang positioniert wurde, erscheint die Präsentation in einem neuen Licht und die starke Zweidimensionalität erscheint in Bezug auf das Ziel des Projekts sinnvoll: die Untersuchung von dreidimensionaler Wahrnehmung mit Hilfe eines zweidimensionalen Mediums.

Stefan Stuchlik beispielsweise hat den Panfelsen der nördlichen Angloise, ein Teil der barocken Parterre-Anlage, zum Motiv seiner Arbeit gewählt. Er erzeugt mit seinem Werk einen umfassenden Eindruck des Ortes, obwohl er die einzelnen Bildbereiche in unterschiedlichen Ansichten fotografiert hat. Den Boden bildet er in Aufsicht und Schrägsicht ab und erzeugt so eine perspektivische Wirkung. Die anschließende Hecke jedoch fotografierte er frontal und streng parallel, so dass diese als flächiges Band zwischen vorgelagertem Boden und Bäumen dahinter erscheint. Die Bäume sind im Gegensatz zu den anderen beiden Bildebenen unscharf und somit wird Bewegung im Bild erzeugt.

Nina Schaals Hommage an den Kubismus.

Es lassen sich in einigen Werken Anklänge an den Kubismus finden, Kubismus reloaded also. Nina Schaal etwa wählte ein Motiv aus der nördlichen Angloise: den Bacchus. Aus verschiedenen Perspektiven fotografierend, imitiert sie den Blick des Besuchers, der die Statue des Bacchus umschreitet. Anhand der Umrisslinien des Bacchus zusammengefügt, ergeben die einzelnen Aufnahmen eine vielansichtige Wiedergabe. Sie schreibt im Ausstellungskatalog:

„In der Erfassung der plastisch-räumlichen Qualität einer Skulptur durch sukzessive Einzelblickfolgen erinnert die Arbeit an die Vielansichtigkeit des Kubismus, der gleichzeitigen Betrachtung des Motivs aus unterschiedlichen räumlichen Blickrichtungen.“

 

Ein zufriedener Philosoph

 

Die Einzeluntersuchungen der Studierenden setzen sich zu einem zweidimensionalen Gesamtkunstwerk aus von dreidimensionalen Objekten gewonnenen Teileindrücken zusammen. Die Aufgabe wurde somit von jedem Einzelnen sowie von der Gruppe als Summe ihrer Teile behandelt, und sowohl Aristoteles als auch die Studenten selbst dürfen zufrieden sein: ein neuer Eindruck wurde gewonnen und neue Sichtweisen aufgezeigt. Und das Ganze bleibt die Summe seiner Teile.

Zwei Ausreißer aus dem zweidimensionalen Darstellungskonzept lassen sich jedoch finden. Zwei begehbare 360°-Ansichten eines Rund-um-Blicks und sechs an Nylonfäden von der Decke hängende kleine Dia Viewer. Sind die Rund-um-Ansichten, ausgehend von einem realen Standpunkt im Schlossgarten, eine Verknüpfung von zweidimensionalem Medium und dreidimensionalem Erleben, schaffen die Dia Viewer eine Verbindung zu dem zeitlichen Aspekt der Themenstellung. Per Knopfdruck kann der Besucher, sich eines der winzigen Geräte vor das Auge haltend, eine Abfolge von Bildern abrufen. Dabei ist die Reihenfolge festgelegt und es kann immer nur ein Bild nach dem anderen angesehen werden, vergleichbar einem endlosen Kreislauf und folglich dem Wechsel der vergehenden und wiederkehrenden Tages- und Jahreszeiten entsprechend.

Die Ausstellung „Bild Zeit Raum. Bildräume der Gartenkunst im Schwetzinger Schlossgarten“ ist noch bis zum 24. Juli 2011 zu sehen. Der gleichnamige Katalog kostet 14,90 Euro.

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