Berlin hat ihn, Hamburg hat ihn und nun auch Heidelberg: den neuen K-Faktor, wie ihn Frank Zumbruch nennt. Der Heidelberger Beauftragte für Kultur- und Kreativwirtschaft meint damit den momentanen Zuwachs im Kultur und Kreativsektor der Universitätsstadt. Die Förderung von Kultur- und Künstlern wird gleichzeitig auch als Wirtschaftsförderung gesehen. Aus diesem Grund zeigt sich die Stadt unterstützend in der Sensibilisierung des Bewusstseins, der Einrichtung von Anlaufstellen und der Schaffung von Arbeitsräumen. Dem Wunsch nach mehr Freiräumen in Heidelberg für Kreative kommt die Stadt mit einem Konzept der Zwischennutzung leerstehender Gebäude nach. Einige Ideen wurden bereits mit der Einrichtung von Offspaces umgesetzt: Den Breidenbach Studios und dem Willi Bender. Beide Projekte knüpfen an das Konzept des „subkulturellen Fortschritts“ an, unter dessen Initiierung das „Volksstudio“, die erste Urban Art Galerie am Römerkreis im Frühjahr 2011, entstand.
Begegnungsstätte und Netzwerk
Im Stadtbild des Heidelberger Gewerbegebiets Rohrbach Süd, zwischen großen Gebäudekomplexen und ausgedehnten Flächen, befinden sich die zunächst unscheinbaren Breidenbach Studios. Die ehemalige Gasfüllstation „H. Breidenbach & Co.“ bietet eine der aktuellen Plattformen für das kulturelle und künstlerische Treiben in Heidelberg.
Auf eine Ausschreibung der Stadt Heidelberg überzeugen die vier Jungunternehmer Shiva Hamid, Pascal Baumgärtner, Paul Heesch und Michael Geiße mit ihrem Entwurf für eine sinnvolle Zwischennutzung des brach liegenden Objekts. Im Mai 2011 beginnt die aufwändige Renovierung des baufälligen Industriegebäudes. Neben den handwerklichen Tätigkeiten wie der Verlegung von Strom- und Wasserleitungen, arbeitet sich das Team in die Betreibung des Privatunternehmens ein. Hierzu gehört nicht nur die Akquise von Künstlern, sondern auch der Aufbau eines kunst- und kulturaffinen Netzwerks in Heidelberg und Umgebung. Ende Oktober 2011 präsentiert sich das Haus schließlich zum ersten Mal unter dem Leitspruch „Medienkunst - Magie - Musik“ in einer neuen Erscheinung der Öffentlichkeit. Aus den ehemaligen Fabrikräumen entwickeln sich schlichte, aber funktionale Arbeitsplätze, die der Kreativität freien Raum lassen. Zwei komplette Stockwerke dienen als Ateliers, Werkstätten, Proberäume, Büros und Co-Workingplaces. Kreative aus allen Genres finden hier eine Plattform. Momentan beherbergt die Kreaktivstätte bildende Künstler, Fotografen, Visuals-Artists, Fahrraddesigner, Musiker, Modedesigner, Softwareentwickler, IT-Dienstleister, Medienkünstler, Interaktionsdesigner, Journalisten, Übersetzer, Architekten, Stadtplaner und Mitarbeiter von einem Kunst- und Musiklabel. Wie Shiva Hamid, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit und Künstlerbetreuung, bekundet, sieht sich das Team mit seinem Projekt als „Katalysator für das kreative Potenzial der Stadt.“
Das Co-Working-Prinzip, wie es hier zu finden ist, hat sich in den letzten Jahren für Freiberufler, Kreative und kleinere Startups zu einer gefragten und beliebten Arbeitsform etabliert. Mittlerweile existieren deutschlandweit etwa 170 Co-Working Spaces. Solch eine Gemeinschaft ermöglicht die Kontaktaufnahme untereinander, den inspirierenden Austausch und kompetenzübergreifende Ergebnisse.
Am Ende jeden Monats findet eine Werkschau statt, bei der die „kulturellen und kreativen Güter“ vorgestellt und verkauft werden können. Auch hier findet nicht zuletzt die projektorientierte Kontaktaufnahme statt. Das große Interesse an Kunst und Kultur bekundet sich durch die gutbesuchten Veranstaltungen der Studios. So finden beispielsweise anlässlich der „Formschau“ diverse Designworkshops zu Fotografie und Bildbearbeitung, Schriftgestaltung und Illustration und Zeichnungen besonderen Anklang. Ausgefallene Partys stützen das beziehungsreiche Gerüst aus Initiatoren, Organisatoren, Kreativen, Künstlern und Förderern sowie der Öffentlichkeit. Mit diesem Konzept schließen sie an Großstadtprojekte wie das Betahaus in Berlin oder das Gaswerk in Weimar an. Der Leitgedanke liegt in der Realisation von Ideen, dem interdisziplinären Austausch und der kollektiven Neuschaffung von Projekten.
Haus der Bohèmiens
Neben den Breidenbach Studios sorgt im Sommer 2012 ein weiteres Künstlerprojekt unter dem kuriosen Namen Willi Bender für Aufsehen. Den Impuls zur Namensgebung gab der Lebensweg eines an multipler Sklerose erkrankten Freundes. Mit dem Namen will das Projekt zum Nachdenken über Schnelllebigkeit und Zeit anregen. Eine Künstlergruppe, die sich in Barcelona in dem Künstleratelier „La Margarita“ zusammengefunden hat, macht sich mit der Unterstützung von Pascal Baumgärtner im Frühjahr auf den Weg nach Heidelberg. Ein Spendenaufruf zur gemeinschaftlichen finanziellen Förderung und ein einmaliger Zuschuss des Kulturamts Heidelberg ermöglichen die Umsetzung des Konzepts. Von April bis Juli finden sie in der Vangerow 39 in einer leerstehenden Halle im Bahnhofsviertel einen neuen Arbeits- und Lebensraum. Im Laufe vier arbeitsintensiver Monate verwandelt sich das zunächst unauffällige Gebäude im farbneutralen Weiß über ein auffallend farbenprächtiges Spektakel zu einem, die gesamte Raumstruktur überziehenden, organischen Ganzen in schwarz-weiß. Das geräumige und lichtdurchflutete Studio, das ehemals als Ausstellung- und Verkaufsraum für Autos und danach für Designermöbel diente, ist geradezu prädestiniert für das produktive Kunstschaffen und die Teilhabe der Kunstinteressierten.
Die neun internationalen Künstler aus Südamerika, Spanien und Großbritannien leben hier auf engsten Raum zusammen und nutzen das Gebäude als Werkstätte, Ausstellungs- und Veranstaltungsort zugleich. Internationale Künstler und Kulturengagierte aus der Region bilden das unkonventionelle Organisatorenteam des Willi Bender, welches einen stetigen Austausch und bereichernden Projektfortgang generiert. Laut Pascal Baumgärtner versteht sich das Willi Bender „nicht als ein auf Profit ausgelegtes Projekt, sondern als ein Kunst- und Kulturprojekt, das durch eine offene Interaktion von Kunst, Sprachen und Musik aller Mitwirkenden lebt“. In großer Varietät präsentieren sich die Künstler aus unterschiedlichsten Kunstzweigen: Fotografie, Make-up Art, Kostümbildnerei, Streetart, Graffiti, Installationen und Performance. Der interdisziplinäre Transfer steht auch bei diesem Projekt im Vordergrund.
Die Künstlergruppe lehnt sich an die in den 1960er Jahren entstandene Prozesskunst an. Bei der Prozesskunst geht es weniger um das Ergebnis, als vielmehr um die Handlung, die Aktion, der Entstehungsprozess eines Bildes oder Objekts, der auf Foto-, Film- oder Videomaterial festgehalten wird. Neugierigen ist ein Einblick jederzeit gestattet, wodurch eine Direktheit ohne jegliche Berührungsängste zwischen Künstler und Besucher geschaffen wird. Der Kommunencharakter dieser Zusammenkunft bezieht den Gast auf eine offene zwanglose Form mit ein und eröffnet ihm einen Einblick in Ausstellungen, aber auch andere Veranstaltungsarten wie Konzerte oder Partys mit Kunstperformance.
Der interkulturelle Austausch und das Verwirklichen von einer Lebens- und Kunstauffassung, so die Leitbilder des Willi Bender, werden nun in einer kleineren Besetzung unter dem Namen by Willi Bender in der Quinckestraße 65 in Neuenheim weitergelebt. Mit diesen für die Stadt Heidelberg außergewöhnlichen Kunst bzw. Kulturkonzepten haben die Initiatoren und Künstler den Nerv der Zeit getroffen. Frank Zumbruch, der Beauftragte für Kultur- und Kreativwirtschaft der Stadt Heidelberg, formuliert es so:
„Sie alle sorgen dafür, dass Heidelberg auch in Zukunft ein Platz bleibt, der für Toleranz und Lebensqualität steht. Eine Stadt, die immer neue kreative Impulse aussendet. Ein Ort der Veränderung. Eine Quelle neuer Ideen.“