„Ethics in Aesthetics?“ ist der Titel eines im vergangenen Monat erschienen Tagungsbandes. Das Fragezeichen im Titel gibt dem Zweifel an der Kompatibilität von Gutem und Schönen, von Sittlichem und Sinnlichen, von Moral und Kunst Ausdruck. Denn die beiden als unvereinbar begriffenen Sphären werden in der Gegenwartskunst einerseits auf Abstand gehalten, da das Kunstsystem von außen herangetragene normative Kriterien ablehnt und ablehnen muss, um seine Autonomie zu wahren. Andererseits ist es eben diese Negativität, die einen kritischen Gegenpol zu den objektiven Verhältnissen darstellen kann, wie es Carolyn Christov-Bakargiev der documenta 13 auf die Fahnen geschrieben hat, wenn sie eine Kunst fordert, die – jenseits von geschmäcklerischer Marktkunst – wichtig und zugänglich ist. Die Möglichkeiten und historischen Entwicklungen von Ethik in der Ästhetik befragt „Ethics in Aesthetics?“, erschienen als dritte Publikation in der „edition weißenhof“ im Anschluss an das Symposium des Weißenhof Instituts der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste, das im Dezember 2011 in Stuttgart stattgefunden hat.
Der Band „Ethics in Aesthetics?“ lotet einige Varianten der gegenseitigen Einflussnahme von Kunst und Leben aus. Varianten, die oft schon im Versuch scheitern: Aus den meisten Beiträgen tönt die Inkompatibilität der Normen im Kunstsystem und der Normen an anderen gesellschaftlichen Schauplätzen: Das sittlich Gute zieht in der Kunst meist eine Eindeutigkeit nach sich, welche das Kunstwerk schnell veralten lässt, eine irritierende semantische Eigentlichkeit erzeugt, oder schlicht zum „ästhetische(n) Desaster“ führt – so stellt es Rainer Leschke im ersten Aufsatz fest.
Ethik und das ästhetische Desaster
Der 256 Seiten starke Band ist in vier Abschnitte unterteilt, die je zwei oder drei Aufsätze umfassen. Der erste, einführende Essay trägt den Titel „Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik“ und stellt eine Gegenstandsbestimmung dar. Die Zeiten sind vorbei, in denen das Schöne als Symbol des Sittlichen galt, und schon bei Kant ist das Schöne nur vermittelt – eben als Symbol – dem Sittlichen verbunden. Dieses konfliktreiche Verhältnis legt Rainer Leschke dem ersten Aufsatz in dem Band zugrunde. Der Text dient gleichsam als Exposition der geistesgeschichtlichen Matrix, die ein Konfliktfeld bestimmt, das bis heute besteht. Friedrich Schiller begreift den didaktischen Anspruch von Kunst als Programm – der moralische Eingriff sei sogar notwendige Bedingung für Kunst. Allerdings ist die wechselseitige Beeinflussung von Ethik und Ästhetik nicht so harmonisch und erst recht nicht so einfach. Das Misstrauen des Kunstsystems gegenüber moralischen Fragestellungen bringt Niklas Luhmann (zitiert von Leschke) auf eine Formel:
„Angesichts dieser Sachlage ist es die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik, vor der Moral zu warnen.“
Damit deutet Luhmann schon auf eine Trennung von Ethik und Moral hin, nur geht die hier vermeintlich gewonnene systematische Unterscheidung von Ethik und Moral in den folgenden Aufsätzen wieder verloren, da beide Begriffe synonym verwendet werden.
Nur Michaela Ott zementiert in ihrem Aufsatz „Ästhetik und Ethik in Philosophie und Kunst“ noch einen Begriff von Ethik, der klar von Moral geschieden ist. Mehr noch: Zum Ethos der Kunst gehört es, wie Luhmann beschreibt, der Moral zugunsten radikaler ästhetischer Positionen zu misstrauen. Das Ethos der Kunst fordert ein Mitdenken des Sinnlichen, statt einer Fremdbestimmung durch normative, von außen herangetragene moralische Kategorien. Anhand von Beispielen der Moderne – Francis Bacon, Samuel Beckett und Franz Kafka – erkundet sie die Möglichkeiten eines nichtmoralischen Ethos in der Kunst. Im 20. Jahrhundert ist das Ethos der Kunst ein werkimmanentes. Vom „Mitsein“ vor dem Kunstwerk, der (Volks)gemeinschaftsstiftenden, ritualhaften Funktion des Werks, wie Heidegger sie erträumte, kann keine Rede mehr sein.
Der gute, der schlechte und der wirklich teure Geschmack
Der zweite Abschnitt ist der „Geschmacksbildung“ gewidmet. Denn Geschmack war, seit es ein autonomes Kunstsystem gibt, ein Kriterium zur Beurteilung nicht nur von Kunstwerken, sondern auch von Alltagsgegenständen und Architektur. So wurde zunächst die Autonomie der Kunst markiert und mithin ein der Kunst eigenes Ethos gebildet, das nicht mehr von außen kam. Eine Rückführung zu moralischen Wertsetzungen findet mit der Industrialisierung statt, die schließlich in der radikalen Ablehnung von Ornamenten in Architektur und Design bei Adolf Loos gipfelt. Besonders in der Architektur scheint sich die Kodierung von richtigem und falschen Bauen – man könnte auch sagen: die enge Bindung vom Sinnlichen ans Sittliche – besonders hartnäckig gehalten zu haben. So zeigt Christian Demand in seinem Beitrag „Architekturkritik als Laienpredigt: Paul Schultze-Naumburg und die moderne Bausündenschelte“ die enge Verwandtschaft, die zwischen stark ideologisch gefärbter Architekturkritik um 1900 und der heutigen, meist polemisch und mit kennerhaft-enthüllendem Gestus vorgetragenen Schelte der Bausünden in deutschen Vorstadtsiedlungen besteht.
Ein ähnliches Feld bearbeitet die Kuratorin des Werkbundarchivs Berlin, Renate Flagmeier, in ihrem Text „Gute und schlechte Dinge aus der Perspektive des Deutschen Werkbunds“. Beim Deutschen Werkbund wurde die dem Ästhetischen untergeschobene didaktische Funktion so explizit formuliert wie selten, denn der Alltagsgegenstand, das Gebrauchsobjekt, hat hier immer einen utopischen Anspruch. Industriedesign soll den Menschen befreien, und so gibt es gutes und schlechtes Design.
Der Direktor der Staatlichen Kunsthalle in Baden-Baden, Johan Holten, schreibt über den guten, den schlechten und den wirklich teuren Geschmack. Die Erziehung zum guten Geschmack ist der Aufklärung ein Anliegen, bei dem Moral und Ästhetik eng verknüpft sind, schreibt Holten in seinem Artikel über seine Ausstellung, die 2010 in der Kunsthalle Baden-Baden gezeigt wurde. Dieser Beitrag zeigt deutlich die historische Veränderbarkeit von Geschmacksnormen. Das von Susan Sontag theoretisierte Konzept von Camp, die ironisch-affirmative Haltung dem Kitsch und dem Ausschuss der Popkultur gegenüber, ist ein entscheidender Einschnitt im Sprechen über Geschmack. Schlechter oder guter Geschmack ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine dem Objekt anhaftende Eigenschaft, sondern eine Frage der Haltung des Betrachters. Ironie und bewusste Transgression werden zum Mittel der Distinktion, wenn der vermeintlich schlechte Geschmack kunstfähig wird, wie Holten am Beispiel von Anselm Reyle und John Bock zeigt.
Eine neue Utopie in Kunst und Design
Die folgenden zwei Beiträge stehen unter der Überschrift „Ästhetik des Widerstands? Gestaltung als Mittel und Mittler“. Damit wird die rein historische Perspektive verlassen und es geht um Gegenwartskunst, die versucht ein Medium der Kritik zu sein. Der erste Beitrag stammt von Raphie Etgar, dem Gründer des Museum on the Seam in Jerusalem: „Soziopolitische Kunst als Mittel der Kritik und des Protests: das Museum on the Seam als Präzedenzfall.“ Hier teilen sich Ethik und Ästhetik plötzlich wieder einen Raum, und Kunst wird wieder wichtig, denn „(das) Museum nimmt die soziale Realität unseres regionalen Konflikts in den Blick. Es befördert angesichts des Zwiespalts den Dialog und ermutigt zu einer Form der sozialen Verantwortlichkeit.“
Die letzten drei Beiträge stehen unter der Überschrift „Nachhaltigkeit. Über die Möglichkeiten der Gestaltung der Zukunft“. Es geht um eine Ethik des Designs, die über das bloße „form follows function“ hinausgeht, und auch nicht mehr, wie zu Zeiten des Deutschen Werkbundes, in der Befreiung vom Alten und vom überflüssigen Ornament besteht, sondern in dem Objekt anhaftenden Eigenschaften. Stephan Bohle und seinem Aufsatz „It’s the Design, Stupid!“ kann und möchte man nicht widersprechen, wenn er den aktuellen OECD-Umweltausblick zitiert und darauf hinweist, „dass die westlichen Gesellschaften einen Lebensstil pflegen, der auf Verschwendung und Zerstörung basiert“, und dass in westlichen Gesellschaften das „Selbstwertgefühl über Konsum und über den Besitz von Gütern“ bestimmt wird. Was aber zwischen diesen und ähnlichen unhinterfragbaren Wahrheiten sichtbar wird, ist die Hoffnung, dass die Sphäre des Ästhetischen wichtig ist und noch die Möglichkeit zur Utopie enthält.
Die zu Beginn vermutete Inkompatibilität von Ethik und Ästhetik, die tief in der Doktrin des l’art pour l’art – und eben nicht für die Moral – verwurzelt ist, wird mit den ersten Beiträgen in einen ästhetischen Kontext gebracht, dann historisiert und schließlich, im letzten Abschnitt für das allgegenwärtige Ideal der Nachhaltigkeit aufgegeben. Die von Renate Flagmeier beim Deutschen Werkbund festgestellte utopische Tendenz im Design taucht in den letzten beiden Artikeln unter neuen Vorzeichen wieder auf. Das Ideal der Designer von heute beruht nicht mehr auf Gebrauchsgegenständen, denen ein emanzipatorisches Potential innewohnt. Sie haben stattdessen dem von Ideologieverdacht freien Ideal der Nachhaltigkeit zu folgen. Beiträge wie der von Raphie Etgar zeigen, dass es Kuratoren gibt, bei denen Kunst einen Platz in unmittelbarer Nähe der Ethik belegt. Ob es möglich ist, den Bereich der Ethik für die Kunst zurückzugewinnen, und wie es dann um die ästhetische Nachhaltigkeit bestellt ist, bleibt sicher zu diskutieren, scheint aber nicht nur bei diesem Symposium und der letzten Documenta eine Fragestellung gewesen zu sein, die für Künstler, Designer, Kuratoren und Kritiker in den Blick gerückt ist.
Der Band „Ethics in Aesthetics?“ wurde von Annett Zinsmeister in der Reihe „edition weißenhof“ im Jovis-Verlag herausgegeben und ist für 28 Euro erhältlich.
Gab es denn in all diesen Beiträgen auch einen Abschnitt, der die Position, dass Ethik und Ästhetik gar nicht trennbar sind, aufgreift? Also, hat jemand mal ganz platonisch argumentiert: das Gute und das Schöne gehen notwendigerweise miteinander einher?
Die Untrennbarkeit von Ethik und Ästhetik ist ja Teil der historischen Perspektive, siehe Schiller und andere. Aber seit dem Ästhetizismus (und dem l’art pour l’art) des 19. Jahrhunderts gibt es die Tendenz, das moralisiernde aus der Kunst zu verbannen. So bezeichnet Nietzsche Schiller hämisch als den „Moraltrompeter von Säckingen“, und prägt den Begriff „moralinsauer“. Das ist freilich nicht die einzige Tendenz, schließlich gibt es zeitgleich auch den Realismus in bildender Kunst und Literatur, der einen durchaus politschen Anspruch pflegt. Emile Zola beispielsweise sieht es als seine Pflicht, ins politische Tagesgeschehen einzugreifen und die Figur des Intellektuellen, der auch politisch Stellung bezieht, lässt sich bis heute finden.
Interessanterweise sind es aber Designer von heute, welche die ethische Dimension ganz pragmatisch sehen: Ein Designobjekt ist gut, wenn es beispielsweise ökologisch abbaubar ist oder unter Bedingungen des vertically integrated manufacturing hergestellt wurde.
Mit dem Verlust verbindlicher moralischer Normen geht in der zeitgenössischen Kunst auch die Bindung von Sittlichkeit und Schönheit verloren und wird gar als störende Fremdbestimmung empfunden. Und: wenn ein Kunstwerk nicht mehr schön sein muss, wie kann es noch gut sein?
Einen anderen Weg ist ja Carolyn Christov-Bakargiev mit der letzten documenta gegangen, die mit aufklärerischem Gestus eine allgemein verständliche „Kunst des Wissens“ fordert, also weg vom hermetischen, nur für Initiierte verständlichen Kunstsystem. Ähnlich geht der Gründer des Museum on the Seam in Jerusalem, Raphie Etgar, vor, der für den Band auch einen Beitrag geschrieben hat. Ihm geht es um eine Kunst, die sich mit dem politischen Geschehen befasst und den Dialog fördert.
So pragmatisch - aber auch engagiert - sehen die Positionen zu einer ethischen Kunst aus. Nur bleibt die Frage, ob Werke, die sich der Ethik verschreiben, sich nicht der Eindeutigkeit preisgeben, sodass die Spannung und die Mehrdeutigkeit, die Kunst erst interessant machen, nicht zustandekommt.