„L’invention du sauvage“ ist der Titel einer Ausstellung, die bis zum 3. Juni im Musée du Quai Branly zu sehen ist. Die Erfindung des Wilden ist das Thema, das die Ausstellung im Titel trägt. Programmatisch verstanden, lässt der Titel auf eine kritische und reflektierte Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Anderen in Kunst und Populärkultur des kolonialen und imperialen Zeitalters in Europa hoffen, auf eine Offenlegung der ideologischen Mechanismen, die am Werk waren, als Europa sich sein Anderes geschaffen hat. Mit Pathos ist dieses Anliegen auf der Website des Musée du Quai Branly formuliert:
L’invention du sauvage s’attache à sortir de l’anonymat ces hommes, femmes, enfants, figurants, bêtes de foires, acteurs ou danseurs, en dévoilant leurs histoires aussi diverses qu’oubliées.
Der Wilde ist demnach seines Namens und seiner Stimme beraubt worden und zur anonymen Projektionsfläche einer europäisch-imperialistischen Konstruktion geworden, deren Aufrechterhaltung eng an die Wahrung der Grenze zwischen „zivilisiert“ und „wild“ gebunden ist, die zugleich die Grenze zwischen Betrachter und Betrachtetem ist.
Vier Akte in der Konstruktion des Fremden
Der Parcours der Ausstellung folgt keiner strikten Chronologie, vielmehr sind es vier aufeinanderfolgende Phasen in der Konstruktion des Anderen, die dem Besucher als Leitfaden dienen. Die erste Phase beginnt im 16. Jahrhundert mit der Kolonialisierung in Nord- und Südamerika. Hier werden die ersten Menschen aus den noch jungen Kolonien nach Europa gebracht und als exotisch präsentiert, aber auch als Botschafter an den Höfen: Der Diskurs eines Anderen ist noch nicht dergestalt gefestigt wie im imperialen Zeitalter, die Begegnung mit außereuropäischen Kulturen erfolgt bis ins 18. Jahrhundert noch beinahe auf Augenhöhe – mit gleichsam interessierten Blick seitens der Kolonisatoren. In diesem Bereich der Ausstellung finden sich zahlreiche zeitgenössische Stiche, welche die Gesandten sowie die Gefangenen zeigen, stets mit besonderem Augenmerk auf die Merkmale der Kleidung oder exotisch scheinende Accessoires. Eine Ausnahme ist ein Gemälde von Jean-Antoine Gros, „Tête du negre“, vom Anfang des 19. Jahrhunderts, denn hier handelt es sich um ein Porträt ohne Kostümierung, ohne Beigabe von Requisiten, die sonst gleichsam als Beleg der außereuropäischen Herkunft im Bild sind. Trotzdem: Die Figur im Bild ist anonymisiert und blickt mit halb zugekniffenen Augen am Betrachter vorbei aus dem Bildraum heraus. Dadurch evoziert die Darstellung geradezu das Wilde und Primitive.
Im frühen 19. Jahrhundert ändern sich die Prämissen der Betrachtung außereuropäischer Kulturen. Es festigen sich pseudowissenschaftliche Diskurse, während zugleich das „Wilde“, das Andere ein Bestandteil der Populärkultur wird. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt sich eine regelrechte Begeisterung für die Ausstellung des „Exotischen.“ Es geht nicht mehr nur um außereuropäische Kulturen, sondern auch um das Ausstellen körperlicher Anomalien. Spätestens hier beginnt der Schwerpunkt zu schwanken zwischen dem wissenschaftlich-ethnologischen Interesse und dem Zurschaustellen vor kommerziellem Hintergrund. Der wissenschaftliche Anspruch der Klassifizierung zieht die Konstruktion und Hierarchisierung eines Rassenmodells nach sich.
Die dritte Phase, von 1870 bis zum Zweiten Weltkrieg, sieht die Institutionalisierung und Spezialisierung des Zurschaustellens auf eine Kultur des Spektakels, nicht nur in den großen Kolonialausstellungen der Zeit, sondern auch den Wildwest-Shows von Barnum und Bailey in Nordamerika, in den Folies Bergères in Paris oder dem Panoptikum in Berlin. Die Akteure dieser Spektakel sind nicht länger verschleppte Ureinwohner, sondern professionelle Schauspieler, die in der Inszenierung das Bild des „Wilden“ nachhaltig prägen. Diese neue Form der Inszenierung ist anhand von reißerischen Zirkusplakaten, beispielsweise der Folies Bergères oder des Tierparks Hagenbeck, dokumentiert.
Die vierte und letzte Phase ist historisch nicht eindeutig abgesetzt, es lässt sich aber eine Rückführung des Fremden und „Wilden“ in das Milieu der Wissenschaft, nämlich zu ethnologischer Klassifizierung erkennen. Aber: Ethnische Fremdheit und das Deformierte werden gemeinsam auf Bühnen gebracht, ganz so als würde ein gemeinsames Reich des Abnormalen existieren. Die Grenze zwischen wissenschaftlichem Anspruch und einer geradezu pornographischen Schaulust ist zur Unkenntlichkeit verwischt. In diesem Teil der Ausstellung finden sich Dokumente der Rekonstruktion ganzer Dörfer in Zoos, es geht um die Konstruktion eines Bildes des Exotischen. In diesem Moment werden wissenschaftliche Ansprüche und das Massenspektakel als Zeugnis imperialer Größe miteinander verknüpft. In diesem Anliegen kulminiert vor dem Ersten Weltkrieg die Ideologie von auf wissenschaftlichem Anspruch begründeter Hierarchie und Spektakel für die Massen, und es werden Bilder des Fremden gefestigt, die bis weit ins zwanzigste Jahrhundert Bestand haben, bis sie schließlich in den 1930er Jahren verblassen; zum einen zugunsten der ideologischen Konstruktion eines Kolonialismus mit menschlichem Antlitz, zum anderen wird das Zirkusspektakel vom Kino verdrängt – wenn auch hier die gleichen Bilder noch weiter wiederholt werden. Für die Ausstellungsmacher, man könnte auch Theatermacher sagen, liegt das wohl außerhalb des Bereichs der menschlichen Zoos.
Bei diesen Phasen der Konstruktion des Fremden spricht die Website des Museums von vier Akten, die wiederum in Szenen unterteilt sind. Der Parcours der Ausstellung soll ganz bewusst an ein Theater erinnern, denn die Menschen, die in den Menschenzoos ausgestellt wurden, haben eine Rolle gespielt, die ein Anderer für sie geschrieben hat, auf Bühnen die nichts als die Konstruktion eines Anderen zum zivilisierten Europa sind – der Katalog der Ausstellung bedient sich der Rhetorik des Theaters, um das ideologiscche Konstrukt offenzulegen. Aber die Ausstellung selbst bleibt ganz der Logik des Spektakels verschrieben, dessen fünfter und finaler Akt fehlt.
Der Besucher ist der Voyeur
Es gelingt der Ausstellung nicht, sich vom Spektakel zu distanzieren. Die Werke werden meist unkommentiert gelassen, die Lables sind oft nicht eindeutig den Werken zuzuordnen. Der Besucher wird mit einer Fülle von Exponaten konfrontiert, die Konzentration auf ein einzelnes Werk wird unmöglich. Das Gefühl der Überwältigung, das sich schon nach kurzer Zeit einstellt, ist schon in der Ausstellungsarchitektur angelegt. Der Parcours ist fest vorgegeben und man hat kaum eine Möglichkeit, den Exponaten auszuweichen. Man wird geführt durch dunkle Gänge, die Wände sind durchbrochen von runden, organisch anmutenden Öffnungen, die dominierende Farbe ist ein dunkles Rot. Die Gänge sind eng und es ist nicht möglich, zurückzutreten und die Exponate mit Abstand zu betrachten – auch dies wohl eine bewusste kuratorische Entscheidung.
Die Wandtexte sind knapp gehalten und geben einen kurzen Überblick über ausgewählte Exponate, Vieles wird jedoch kommentarlos präsentiert. Schnell und ohne es zu merken, sieht sich der Besucher in der Rolle des Voyeurs, der, mehr schaulustig als interessiert, mehr voyeuristisch als kritisch, von einer Kuriosität zur nächsten flaniert. Die beengende Umgebung, die dunklen Wände schaffen eine Stimmung des Anrüchigen, Schlüpfrigen, der Blick des Betrachters wird zu einem pornographischen, stets gefasst auf das nächste Spektakel, das sich im Halbdunkeln hinter der nächsten Ecke verbirgt. Das erklärte Ziel in der Ausstellung ist es, die Grenze, die zwischen Betrachter und exotischem Subjekt gezogen ist, zu untersuchen und zu hinterfragen. Nur scheitert dieses Unterfangen insofern, als diese Grenze mit der detailgetreuen Rekonstruktion des zeitgenössischen Ausstellungskontextes unsichtbar gemacht und damit gefestigt wird. So wird beispielsweise keine Distanz zum zeitgenössischen Spektakel eingenommen, wenn auf einer Bühne in der Ecke eines Ausstellungsraums die Silhouette von Sarah Baartmann, der so genannten „Hottentotten-Venus“ projiziert wird. Statt die Exponate ins Licht zu holen und einer kritischen Reflexion auszusetzen, wird alles verdunkelt und mit einer Atmosphäre des Anrüchigen umgeben.
Einziger Lichtblick dieser ansonsten eher düsteren Ausstellung ist eine Wand, etwa in der Mitte des Parcours, wo der Besucher als eine Art nosce te ipsum sich erst seinem eigenen Spiegelbild in den an Wandvorsprüngen angebrachten Spiegeln gegenübersieht, bevor er zum nächsten Gemälde gehen kann. Hier ist der einzige Bruch in der ansonsten bruchlosen Rekonstruktion eines vergangen geglaubten Menschenbildes zu sehen, ein kurzer Moment, in dem die Reflexion ermöglicht und konkret gemacht wird, in dem die fast perfekte, theatrale Illusion gestört wird. Denn nur hier wird die zugunsten des Spektakels unsichtbar gemachte Grenze zwischen Betrachter und Ausgestelltem gebrochen und es ist für einen kurzen Moment, als sähe sich der Besucher selbst auf der anderen Seite, hinter den Gitterstäben des menschlichen Zoos.
Die Ausstellung „L’invention du sauvage“ ist bis 3. Juni im Musée du Quai Branly in Paris zu sehen.