Der Philosoph als Kurator – das verspricht viel Tiefgang. Zumal die Gruppenschau im Frankfurter Kunstverein den tönenden Titel „Arte Essenziale“ trägt. Dieser wirft die Frage nach der Kunst schlechthin auf: Was ist das Essenzielle, also das Wesentliche an ihr? Gleich drängt sich der Verdacht auf, es könnte sich bei der Veranstaltung um das Propagieren einer neuen Schule handeln, besonders in Anbetracht der Tatsache, dass die Schau unter der theoretischen sowie praktisch-kuratorischen Ägide des Kunstphilosophen und Professors Federico Ferrari aus Mailand entstand.
Den Betrachter erwarten die überwiegend installativen Arbeiten von acht internationalen Künstler_innen der Jahrgänge 1968 bis 1976, die sämtlich eine Sprache der Konzentration oder sogar Reduktion haben. Gianni Caravaggio aus Italien zeigt einfache Kombinationen von Materialien und Formen. „Shortly Before the Solar System“ von 2008 heißt die fragile Stapelung eines bauchhohen, unregelmäßigen Styroporstückes und viel kleinerer Kugeln aus Bronze, Zink, Aluminium sowie einer gelben Sojabohne. Im ersten Stockwerk scheint für den Italiener eine an der Wand lehnende Platte schwarzen belgischen Marmors als Bildträger zu fungieren, indem er den Putz über dem Stein abrieb, so dass sich feine Inseln auf der scheinbar glatten Oberfläche und dem Boden ablagerten. Der Titel „Seed Image“ dieser 2011 entstandenen Arbeit verweist auf Caravaggios Kunsttheorie, die er in einen Text gefasst mit ausstellt. Ein solches, einheitlich gerahmtes „Statement“ präsentiert jeder der beteiligten Personen der Ausstellung, inklusive dem Kurator. Nicht alle wählten dabei die Textform. Caravaggio geht es aber explizit um bloße „Anfänge“, um „aufkeimende Ursachen“ – „germinal causes“.
Klingelt’s?
Karla Black, die Schottland auf der diesjährigen Biennale di Venezia vertrat, ist hier ebenfalls mit zwei Arbeiten vertreten. Die gewundene Treppe zu den Obergeschossen verläuft um ein Band zusammengebundener, tuchartiger Folien in Pastelltönen, das sich dem Luftstrom der Passanten anschmiegt. „Nature does the easiest thing“, erzählt der Titel des Werkes von 2011. Raumgreifend ist auch „Persuader Face“ aus dem gleichen Jahr. Der größte Teil eines Saales ist mit einer fingerdicken Schicht farbigen Pulvers bedeckt, das eine nahezu unberührte, teppichartige Oberfläche zeigt. Nur wenige Spuren auf dem Gemisch aus Gips, Kreide und anderen Materialien deuten auf seine Entstehungsgeschichte hin: Es scheinen sich an einigen Stellen Gegenstände befunden zu haben, in deren Abdrücken auch ein Schichtenverlauf sichtbar wird. Solche Arbeiten strahlen gleichzeitig Macht und Schwäche aus – eine Berührung könnte sie verwischen, zerbrechen. Dabei besetzen sie aber ihren Platz im Raum unmissverständlich.
Mit dem Unsichtbaren spielt der amerikanische Künstler Jason Dodge. „Signal bells, lights mark where a bell is sealed inside a wall“ ist der selbsterklärende Titel einer Installation von zwei schmucklosen Lampen. Sie geben vor, von beiden Seiten einer Wand zu zeigen, wo sich eine Klingel in derselben befindet. Ob dies tatsächlich so ist, kann der Betrachter nicht wissen. In seiner ironischen Zwiespältigkeit von Wirklichkeit und Möglichkeit gewinnt das Werk aus dem Jahre 2011 eine zentrale Stellung in der Schau. Der Verweis funktioniert hier im Doppelsinn: Einerseits soll das Licht auf das Kunstwerk selber hinweisen, andererseits wird der Betrachter sozusagen des Werkes selbst verwiesen. „Does this ring a bell?“, lautet eine Redewendung im Englischen – „Erinnert das an irgendetwas?“ Und Gianni Caravaggio stellt in seinem „Statement“, gleichsam darauf antwortend, „Materie als unendliche Möglichkeit“ vor. In der Wand steckt eine Klingel, schon möglich. Die Kunst hat diese aber nicht zu zeigen, sondern eben nur Bedingung der Möglichkeit einer freien Vorstellung zu sein.
„I trust the liar“
Mit der Beziehung von Materie und Form spielt auch die Arbeit „But, Actually I Don’t Know What My Real Feelings Are“ von Francesco Gennari. Drei 2009/2010 entstandene, gleich aussehende, schwarze Stäbe liegen aneinandergereiht auf dem Boden. Man sieht alles und muss erst die Beschreibung lesen, um zu wissen, dass die jeweils verwendeten Materialien völlig unterschiedlich sind. Es handelt sich um Plexiglas, belgischen Marmor und Muranoglas, Stoffe mit sehr verschiedenen Eigenschaften und Bedeutungen.
Thea Djordjadze aus Georgien, geradezu ein shooting star der aktuellen Kunstszene, deutet Räume an: Eine fragmentarische Glastreppe verliert sich über einem Spiegel auf dem Boden. Kleine Tonklötze und eine amorphe Keramik sowie im Raum verstreute Teppiche ergeben zusammen eine Klaviatur der Materialitäten. Diese wirkt zwar konstruiert und reduziert, ist aber trotzdem inhaltsgeladen und ergibt einen assoziativen Gesamtklang. „I trust the liar. With pleasure, tea“ ist einer von vielen ausufernden Titel der Ausstellung. Nur ein Ansatz zu Räumlichkeit ist auch die Arbeit „untitled“ von Alice Cattaneo aus dem Jahre 2011. Mit Eisen, Emaille, Schaumstoff und anderen Materialien konstruiert sie geometrische Raumskelette. Beide Künstlerinnen beziehen sich spielerisch auf die Architektur, den Umraum und die Maße sind jeweils variabel. Doch wiederum ist das Material der Form gleichsam voraus, ist artikulierter, fertiger. Dies kann als eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts gesehen werden, des Dada, der arte povera, des Fluxus, die sich sämtlich an Setzungen von einem Kontext in den anderen abarbeiteten. „Ekstatischer Materialismus“ ist das Schlagwort für den Wortgeber Ferrari:
„Der Punkt, an dem Materie und Materialien sich selber verlassen um das zu werden, was sie sind.“
Der Künstler befreit die Dinge aus ihren Sinnzusammenhängen, schafft aber keine neuen Definitionen, sondern lässt es gleichsam nur klingeln. Ferrari geht es laut „Statement“ um eine „initial gesture“, eine „erste Geste“ des Künstlers in einer Zeit, in der die „Kunst in einem System zu verschwinden scheint, in dem sich nichts von etwas anderem unterscheidet.“ Diese Geste ist eine „nackte Realität“, der der Betrachter ausgesetzt werden soll.
Die Stoßrichtung ist klar: Es geht um eine Kritik der Postmoderne mit ihrer Hyperrealität, in der alles nur noch Symbol in einem Verweiszusammenhang ist. 1967 wurde ebenfalls von einem Kurator, Germano Celant, durch die Ausstellung „Arte povera e IM spazio“ in Genua der „Ausstieg aus dem Bild“ (Nike Bätzner) proklamiert. Sicher ist die Parallele zu „Arte Essenziale“ kein Zufall, geht es doch wieder um einen Ausstieg. Das einzige Problem der Kunst ist laut Ferrari „nicht etwas anderes als sie selbst zu sein, sondern zu verstehen, was sie nicht nicht sein kann.“ Eine Definition ist das jedenfalls nicht – zum Glück. „Nacktheit“, „Klarheit“, „Nüchternheit“ sind die Eigenschaftswörter, die er ihr beilegt. Dabei ist der gemeinsame Nenner bei aller Minimalität und Konzeptualität das Material an sich. Die Geste an diesem ist der verwirklichende Akt und der Künstler wieder ursprünglicher Schöpfer. Das Werk soll wieder eine Aura bekommen.
Gegenentwurf zur Gigantonomie der Kunstwelt
Das ist nachvollziehbar, jedoch drängt sich beim Begehen des Frankfurter Kunstvereins der Eindruck auf, die Zeit wäre stehen geblieben. Die selbst gewählten Kategorien sind Teile klassischer Denkmodelle: Potenz und Akt, Materie (und Form), erste Geste (und Weltschöpfung), Kunstwerk (und Aura). Ein Hauch von Vergeistigung ist klar dabei, die Kunst soll laut Ferrari „verstehen“ und nicht verwirren. Im gewaltfreien Spiel der Vorstellungen sahen schon Kant und Schiller die moralische Bedeutung der Kunst. Keine vieltönende Materialwut wie bei Meese, Schlingensief oder Bock wäre hier denkbar, ganz zu schweigen von den Strategien von Murakami oder Hirst. Und da liegt das andere Problem: Die Frechheit, mit der die arte povera den Kunstbegriff attackierte, ist heute keine mehr. Zu abgeklärt ist die Kunstwelt geworden. Wenn man so will, geht es der hier vorgestellten essenziellen Kunst geradezu um eine Errichtung eines modernen Klassizismus: Hier hält sich alles die Waage, Readymade, Expression, Idee, Materie, Künstler, Betrachter. Keinem wird zu viel zugemutet und es wird auf Bewährtes zurückgegriffen. Es geht um eine grundlegend affirmative Haltung, eine Bestätigung von Tradition und Sein des Kunstwerkes. Die Ausstellung wird zum Andachtsraum. Dass dieser Ansatz dazu geeignet ist, zahlreiche Einwände hervorzurufen, liegt auf der Hand.
Die klassische ästhetische Theorie aus der Zeit der Aufklärung war Teil der großen bürgerlichen Ermächtigung. Bezeichnenderweise findet die Schau ja in einem Kunstverein statt, ebenfalls einer Institution des bürgerlichen Engagements. Und schließlich ist die Collezione Maramotti, die die meisten Werke in Auftrag gegeben hat und besitzt, die Kunst- und Designsammlung des 2005 verstorbenen Modeunternehmers Achille Maramotti. Ästhetizismus und Warencharakter der Kunst gingen schon immer gut zusammen. In der Zeit der künstlerischen global player einerseits und einer Flut an konkurrierendem Nachwuchs andererseits scheint es oft darum zu gehen, sich im Netz bestehender Verbindungen zu verorten, auf seinem überschaubaren Teppich zu bleiben. Das ist das zutiefst Bürgerliche an „Arte Essenziale“.
Walter Benjamin setzte dereinst große Hoffnungen auf den Verlust des Auratischen in der Kunst durch die Reproduktion der Werke. So könnte am Ende die breite Masse die elitäre kulturelle Veranstaltung aufbrechen, ja sich möglicherweise emanzipieren. Gut, er ist auch wohltuend, gerade in Deutschland, dieser wesentlich leisere Gegenton zur Gigantomanie der Kunstwelt der letzten Jahre. Und Künstlerinnen wie Thea Djordjadze und Karla Black verdienen die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wird. Es geht der hier vorgestellten essenziellen Kunst letztlich um den kleinen Materialismus, der in den großen eingebettet ist.
Die Ausstellung „Arte Essenziale“ fand im Frankfurter Kunstverein vom 4.11.2011 bis 1.1.2012 statt. Benjamin Schaefer hat mit seiner Kunstkritik den 3. Platz beim artefakt-Artikelwettbewerb belegt.