Zwischen Plakaten, die Konzerte bewerben oder Veranstaltungen ankündigen, befinden sich derzeit in Heidelberg auch solche, auf denen keine Wochen- oder Kalendertage vorhanden sind. 17 Plakate von internationalen Grafikkünstlern sind bis Mitte Oktober nicht in einer Galerie oder einem Museum, sondern auf der Straße in der Innenstadt zu sehen. Der ortsansässige Grafiker Götz Gramlich wartete gemeinsam mit dem Plakatwerbefachmann Marcello Lukas Künstlern mit der Idee auf, ein Plakat zu entwerfen, auf dem sie ein Thema bearbeiten sollten, das sie beschäftigt. Erklärtes Ziel dieser Aktion mit dem Namen „Mut zur Wut“ sei es, ein Entkommen vor den Plakaten beziehungsweise deren Inhalten unmöglich zu machen. Jedem Betrachter bietet sich die Möglichkeit – macht er in der Innenstadt die Augen auf –, sich von den Motiven inspirieren zu lassen und sich kritisch mit den dargestellten Begebenheiten auseinanderzusetzen. Gelegenheiten sich mit den Plakaten zu beschäftigen, sind zur Genüge vorhanden, wurden diese doch an zentralen Knotenpunkten der Stadt, wie dem Bismarckplatz, der Friedrich-Ebert-Anlage oder dem Universitätsplatz angebracht. Allerdings muss die Frage erlaubt sein, ob die künstlerischen Aushänge aus der Vielzahl von Werbeträgern in der Stadt hervorstechen? Schließlich unterscheiden sich die Werke nicht im Format, sondern „nur“ in der Gestaltung und Aussage von den üblichen Werbeplakaten.
Mehr Speiseeis
Einige der Motive heben sich deutlich von der Masse an Veranstaltungshinweisen in Plakatform ab. Flo Gaertners Beitrag ist ein solches Beispiel. Auf weißem Grund steht in der oberen Hälfte des Plakats in roten Lettern „Projekt für einen Text“ geschrieben, unterhalb des Textes befindet ein unbeschriebenes Feld. Dass das Projekt angenommen wird, zeigen die Reaktionen einiger Betrachter, die selbst zum Künstler bzw. Texter wurden, indem sie das leere Feld um den fehlenden Text ergänzten: „Leistungspunkte machen FREI!“ oder Forderungen nach mehr Speiseeis finden sich nun dort. Ganz im Sinne Joseph Beuys‘ fordert das Plakat Passanten auf, aktiv zu werden und ihre Umwelt künstlerisch zu gestalten. Wie die Bearbeitungen von Gaertners Plakaten zeigen, besteht auch 24 Jahre nach dem Tod des jüngst mit einer Retrospektive in Düsseldorf gefeierten Künstlers Beuys, Bedarf nach Kunst, die unter dem Motto steht „Jeder Mensch ist ein Künstler“.
Ebenso wie Gaertners Beitrag fällt auch Andrew Lewis Arbeit als ungewöhnliches Plakat sofort ins Auge, allerdings kommt es ganz ohne Text aus. Hier wird es dann auch wirklich politisch. Lediglich ein stilisierter weißer Kampfjet und eine Roggenähre sowie zwei Wahlkästchen unterhalb der Symbole sind abgebildet. Im Kästchen unter dem Jet findet sich ein rotes „x“, unter der Ähre ein rotes Häkchen. Die Aussage des Plakats mit dem Titel „Choose“ ist leicht verständlich und schnell zu erfassen: Krieg/Kriegsindustrie, nein – Natur/Nahrungsmittel, ja! Dem Betrachter wurde die Wahl vom Künstler selbst abgenommen.
Explosive Wirkung
Von Künstlern gestaltete Plakate mit politischem Inhalt blicken in Heidelberg auf eine über vierzigjährige Tradition zurück, schließlich gründete hier Klaus Staeck 1965 die „Edition Tangente“, heute „Edition Staeck“. Staeck verlegt seitdem Objekte, Fotoarbeiten, Künstlerbücher und Multiples diverser Künstler, etwa von Joseph Beuys, sowie eigene Postkarten und Plakate. Bekannt wurde Staeck vor allem mit seinen satirischen und zugleich politisch-kritischen Plakaten, die bis heute für Aufsehen sorgen. Vor diesem Hintergrund ist Heidelberg der perfekte Ort für die Ausstellung „Mut zur Wut“. Staeck in einem Interview mit artefakt über die Wirkung seiner Plakate:
Eben diesen zweiten oder dritten Blick benötigen auch einige der Exponate mit „Mut zur Wut“, um als nicht-kommerzielle Plakate deutlich wahrgenommen zu werden.
Yossi Lemels „Black April“ ist solch ein Fall. Der israelische Künstler setzt sich mit der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko auseinander. Das von ihm gestaltete Plakat zeigt in Nahaufnahme ein menschliches Auge in schwarz-weiß, aus der pechschwarzen Pupille läuft über die stechend blaue Iris eine Flüssigkeit. Das Text-Bild-Verhältnis und die Schriftgröße lassen auf den ersten Blick an ein Konzertplakat denken. Auf den zweiten oder dritten Blick, der durch die Vielzahl an Plakaten in der ganzen Stadt gewährleistet wird, ist der Betrachter irritiert. Erst dann fällt auf, dass „Gulf of Mexico“ wohl nicht der Name einer Band und „Black April“ nicht das Motto der diesjährigen Deutschland-Tour ist. Bei wiederholtem Hinsehen wird deutlich, dass es sich um ein politisches Plakat handelt, um eines, das zum Nachdenken anregen soll. Lemel spielt auf die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko an, die durch eine Explosion der Ölbohrplattform Deepwater Horizon im April diesen Jahres hervorgerufen wurde. Die blaue Iris kann vor diesem Hintergrund als Ausschnitt des Ozeans und die schwarze Flüssigkeit als Öl wahrgenommen werden. Die gleichzeitige Assoziation von Tränen und das Verwenden eines menschlichen Auges zeigt, dass diese Umweltkatastrophe eine globale Angelegenheit ist, die alle Menschen tangiert, so auch in Heidelberg.
Ebenso schlicht wie ausdrucksstark ist auch das Motiv „Konstruktiver Wandler“ von 2xGoldstein, das an „Die Gedanken sind frei“ von Staeck erinnert: Auf lavendelfarbenem Hintergrund ist in schwarz-weiß ein Revolver abgebildet, aus dessen Lauf eine Glühbirne aufragt. Auf beiden Objekten sitzt ein Gegenstand auf - bei 2xGoldstein auf dem Revolver, bei Staeck auf einem Torso -, der absonderlich ist und nicht zum jeweiligen Objekt passen will. Wird der Auslöser des Revolvers betätigt, wird keine Munition verschossen, stattdessen kann sprichwörtlich „ein Licht aufgehen“. Ideen und Gedanken können sozusagen als Waffe fungieren. Staeck zitiert den Titel eines deutschen Volksliedes und stellt der Parole „Die Gedanken sind frei“ gleichzeitig einen Anzugträger gegenüber, dessen Kopf beziehungsweise Konservenbüchse leer ist: Es herrscht die Freiheit zu denken, einen Zwang gibt es nicht.
Laut den Veranstaltern habe jedes Plakat eine explosive Wirkung auf den Betrachter. Sicher ist, dass die Plakate spätestens nach wiederholtem Kontakt zünden. Die Plakat-Aktion zeigt, dass Kunst im öffentlichen Raum nicht immer nur dauerhaften Skulpturen oder Plastiken gewidmet sein muss, sondern auch temporäre Arbeiten anderer Gattungen das kulturelle Leben einer Stadt erfrischen und zum Nachdenken anregen können.
Die Plakate sind noch bis 15. Oktober 2010 im öffentlichen Raum Heidelbergs zu sehen. Alle Plakatmotive sind im A0-Format auch an der Halle_02 und am Karlstorbahnhof ausgestellt. Weitere Informationen und die übrigen Plakatmotive sind auf der Homepage zum Projekt zu finden.