Wilhelm Werner, männlich, geboren am 18. Mai 1898 in Nordheim/Gerolzhofen, am 12. August 1919 Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Werneck, Diagnose „Idiotie“, Verlegung am 6. Oktober 1940, gestorben vermutlich am selben Tag, in der „T4“-Tötungsanstalt Pirna/Sonnenstein, katholisch, ledig, ohne Beruf, nach eigenen Angaben „Volksredner“ und „Theaterrekesör“, Autor von derzeit 44 bekannten Bleistiftzeichnungen, Format 16×20 cm.
Nur spärliche Informationen sind über die Person Wilhelm Werner erhalten. Seine Akte wurde wie bei mehr als der Hälfte der Opfer der „Aktion T4“, der systematischen Ermordung von Psychiatriepatienten und Behinderten durch die Nationalsozialisten, vernichtet. Die Akten und somit die letzten Indizien für die Kranken- und Leidensgeschichten vieler Euthanasieopfer gingen so unwiederbringlich verloren.
Über vierzig der erst kürzlich entdeckten Wernerschen Zeichenzeugnisse, welche die an ihm vorgenommene Zwangssterilisierung im Dritten Reich thematisieren, werden aktuell als Kabinettausstellung im Museum der Sammlung Prinzhorn gezeigt. In bühnenartig konstruierten Räumen oder durch locker auf das Papier gruppierte Ansammlungen chirurgischer Instrumente, die teilweise mit anonymen Händen kombiniert sind und an Abbildungen aus medizinischen Lehrbüchern erinnern, schildert und verarbeitet der Autor seine traumatisierende Leidensgeschichte. Die Diagnose „Idiotie“, die den schwersten Grad des „angeborenen Schwachsinns“, vergleichbar einem „Intelligenzalter“ von zwei bis drei Jahren bezeichnete, ist bei der Betrachtung der Arbeiten und ihren zeichnerischen und inhaltlichen Qualitäten heutzutage schwer nachvollziehbar. Thomas Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn, äußerte im Rahmen der Pressekonferenz wegen eben dieser Qualität die Vermutung, dass Werner möglicherweise autistisch oder gehörlos war, betonte jedoch, dass retrospektiv-diagnostische Überlegungen immer spekulativ blieben. Die ausgestellten Arbeiten entstanden zwischen 1934 und 1938. Ein damaliger Verwaltungsangestellter der Anstalt Werneck hatte das in schwarzes Leder eingebundene Heft Werners wohl aus Faszination an sich genommen, in den folgenden Jahren vielen Bekannten gezeigt und die dadurch an den Rändern abgegriffenen Blätter, nachdem sie sich aus dem Heft lösten, schließlich gelocht und notdürftig neu gebunden. Nachfahren traten 2008 an die Sammlung Prinzhorn heran, welche die Zeichnungen schließlich erwarb.
Die mit großem Druck auf das Papier gebrachten, teilweise schraffierten Zeichnungen, mit ihren markanten Konturen werden von vereinfachten Figuren, Körperteilen, Apparaten, Maschinen und Operationsbesteck bevölkert. Die meist im Profil gezeigten Clowns, Ärzte, Krankenschwestern und Patienten gleichen Puppen oder Marionetten. Zu beobachten ist, dass Wilhelm Werner sich als Opfer, in der Rolle eines Clowns oder Patienten sieht, dies allerdings mit einem erstaunlich neutralen Blick. In keinem Moment klagt er die Ärzte direkt an oder charakterisiert sie als böse.
Gefühl der Ohnmacht
Werners Bildaufbau und die Darstellung der Hauptakteure wecken beim heutigen Betrachter Reminiszenzen an Künstler, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten und den Sprung in die Kunstgeschichte geschafft haben. Die vielfach bühnenartig aufgebauten und mit Figuren und Objekten ausgefüllten Blätter erinnern beispielsweise an Werke Max Beckmanns, nicht zuletzt durch die wiederkehrende Clown-Metaphorik – ernsthaft und verloren blickende, harlekinähnliche Gestalten stehen im Zentrum mehrerer Zeichnungen Werners. Bildräume sind nur angedeutet, die Akteure verharren statisch, teilweise isoliert voneinander. Ein Mangel an Lebensraum entsteht durch die räumliche Dichte oder Dominanz mancher Figuren und Maschinen, die eine freie Entfaltung des Einzelnen, besonders des Protagonisten Werner, unmöglich erscheinen lassen. Eine Atmosphäre der Unausweichlichkeit und Verlorenheit entsteht. Durch Perspektive und Bildaufbau wird beispielsweise im Blatt Nummer 20 das Augenmerk auf einen nackten Patienten – wohl ein Selbstbildnis Werners – gelenkt, der von einer kleineren jedoch dominanten, Hakenkreuzbinde tragenden Krankenschwester bedrängt und dem mit nicht identifizierbaren Gerätschaften an den Genitalien manipuliert wird. Die Gliedmaßen des Patienten wirken kubistisch verdreht – augenförmige und runde Öffnungen, die stellenweise an die bei Papierhampelmännern zur Fixierung der Gliedmaßen benutzten Klammern erinnern, befinden sich auf Arm und Oberkörper. In der erhobenen linken Hand des Mannes befindet sich ein kleiner Ball, vermutlich ein abgetrennter Hoden. In der rechten hält er eine Schale, die auf einem anderen Blatt als „Klügeteller“ – Werners Ausdruck für Hoden – benannt wird. Wohl an christliche Ikonographie anknüpfend, werden die runden Organe dem Betrachter auf Tellern präsentiert. Eindringlich vermitteln die Zeichnungen ein Gefühl der Ohnmacht während und nach der ‚Entmannung‘.
Bezeichnenderweise zeigt Werner durch das wiederkehrende Motiv abgetrennter Hoden keine Sterilisierung, bei der die Samenleiter durchtrennt werden, die äußeren Geschlechtsorgane jedoch unberührt bleiben, sondern eine Kastration. Dies hat zum einen den Grund der einfacheren Vermittelbarkeit der Handlung und weist zum anderen auf die persönlich als Verstümmelung erlebte Operation hin. Die Hände der Figuren sehen teilweise wie Greifhände aus und nehmen die in den anderen Blättern wiederkehrende Operationswerkzeug-Thematik auf, rufen aber gleichzeitig Assoziationen an Kinderzeichnungen hervor. Die vereinfachte Darstellungsweise lässt sich durch die Tatsache erklären, dass der Autor keine zeichnerische Ausbildung genossen hat und als Laie auf einfache Mittel zur Verdeutlichung der tiefgreifenden Erfahrung zurückgriff. Nichts desto trotz leistet Wilhelm Werner in seinen Blättern eine künstlerische Verarbeitung und abstrahierte Vermittlung seines persönlichen Traumas. Dies macht die Brisanz seiner Zeichnungen aus, zudem ist bisher kein vergleichbares künstlerisches Zeugnis der geschätzten 350.000 Opfer der Zwangssterilisierung im Dritten Reich bekannt.
Antworten auf die Klassiker der Sammlung
Als Auftakt und Übergang zur Ausstellung „Heidelberger Skizzen“ prangt das Gemälde „The Vanishing Act“ des zeitgenössischen Züricher Künstlers Valentin Hauri im Eingangsbereich neben Werners Kabinett. Die Formgebung erinnert Sammlungserfahrene sofort an eines der bekanntesten Werke, nämlich den „Wunderhirthen“ August Natterers. Ausgehend von Publikationen mit Arbeiten aus der Sammlung Prinzhorn arbeitet Hauri seit 1998 in direktem Bezug zu ausgewählten Werken. Er reiht sich so ein in eine Tradition, die Künstler früherer Generationen wie Ernst Ludwig Kirchner, Oskar Schlemmer oder Max Ernst, welche sich durch Hans Prinzhorns Buch „Die Bildnerei der Geisteskranken“ (1922) oder vor Ort in der Sammlung zu neuen Werken anregen ließen, begründeten.
Seit der Eröffnung des Museums 2001 bekamen zeitgenössische Künstler immer wieder die Möglichkeit, in Kabinettausstellungen oder Konzerten Antworten auf die Sammlung zu geben. Nun wechseln die Raumverhältnisse, denn dem Züricher wird der große Ausstellungsraum zugedacht. Hauri interessiert besonders das „Verweigern und Scheitern“ der Prinzhorn-Künstler. Nach einer tieferen Essenz suchend, abstrahiert er die oft kleinteiligen und kleinformatigen Arbeiten und übersetzt markante Details, einen Gesamteindruck oder Formkonstellationen in seine meist großformatigen ungegenständlichen Werke. Um dem Betrachter diesen Arbeitsprozess und den gestalterischen und inhaltlichen Bezug erfahrbar zu machen, werden die Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen des Schweizers mit den Vorlagenwerken – darunter viele ‚Klassiker‘ der Sammlung – ausgestellt.
Die Ausstellungen „Heidelberger Skizzen – Valentin Hauri und die Sammlung Prinzhorn“ und „Bilder einer Zwangssterilisierung – Wilhelm Werner (1898-1940)“ sind noch bis zum 6. Juni 2010 in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg zu sehen.
Im Rahmen der Begleitveranstaltung zur Ausstellung „Bilder einer Zwangssterilisierung – Wilhelm Werner (1898-1940)“ sprechen am 11. Mai ab 19.30 Uhr Thomas Röske und Maike Rotzoll über „Doppeltes Opfer – Wilhelm Werner (1898-1940)“.
Sehr interessanter Artikel.
Wir bereiten gerade eine Ausstellung über Wilhelm Müller vor. Patient auf der Domjüch, seine Werke sind auch in Heidelberg.