Das Ich ist eine vage und komplizierte Angelegenheit. Gleichsam gefangen erscheint der Mensch zwischen den Sphären des Innen und Außen – dem Bild, welches er in sich sieht und dem, welches er nach Außen gibt. Das Ich wird dabei zum Spielball zwischen Erkenntnis und Konstruktion. Kann der Mensch sich selbst, sein Wesen, erkennen? Gibt es dieses Etwas, das erkannt werden soll, überhaupt? Oder basiert das Selbst vielmehr auf strategisch gestalteten Puzzleteilen, die vom Ich zu einem Gesamtbild gelegt werden?
60 Jahre Selbstdarstellung
Angetrieben von den Fragen nach der eigenen Existenz widmeten sich Künstler seit dem 15. Jahrhundert immer öfter dem Genre des Selbstporträts. Gekonnt entwarfen Marketingstrategen wie Dürer ihre eigene Person. Andere, wie etwa Rembrandt, versuchten in fast empirischer Manier das eigene Ich und dessen psychische Konstitution zu erfassen. Ebenso wie Hans Belting die Produktion von Bildern als eine den Menschen grundlegend charakterisierende Kulturpraxis erklärt, muss auch die Reflexion über das Selbst und dessen künstlerische Umsetzung als anthropologische Konstante betrachtet werden, zeugt die Kunstgeschichte doch von einer bis heute andauernden Kontinuität des Bildsujets.
Wie der Künstler im postmodernen Zeitalter sich selbst wahrnimmt, hinterfragt, aber auch entwirft und präsentiert, wird derzeit in der Staatlichen Kunsthalle in Baden-Baden untersucht. Die Ausstellung „,Jeder Künstler ist ein Mensch!‘ – Positionen des Selbstportraits“ zeigt einen Rundgang mit 22 Vertretern der zeitgenössischen Kunst und umfasst dabei die Polarität von Selbstbefragung und Selbststilisierung von nahezu 60 Jahren Selbstdarstellung.
http://www.youtube.com/watch?v=vUzBCl6iVoc
Das Konterfei als Marke
So stellte Martin Kippenberger mit dem titelgebenden Zitat das Diktum „Jeder Mensch ist ein Künstler“ von Joseph Beuys auf den Kopf und richtete damit den Blick auf den Menschen abseits von dessen Rolle als Künstler. Besonders deutlich schildert dies die Videoarbeit „I‘m too sad to tell you“ (1971) von Bas Jan Ader, die die Verzweiflung und Trauer des Künstlers dokumentiert. Im Gegensatz dazu steht Andy Warhol, der mit der Serialität des Siebdruckverfahrens das eigene Konterfei zur Marke erhob und ein Image generierte. Dem Meister des self-marketing ist in der Ausstellung gar ein ganzer Raum gewidmet ist, von dessen Wänden er hundertfach auf den Betrachter blickt.
Ebenso dringlich wie die Frage nach dem Selbst, wird in der zeitgenössischen Kunst die Frage nach der Darstellbarkeit desselben diskutiert, wie die Ausstellung gleich mit der ersten Arbeit zeigt. „Treppenhaus München“ (1984/1998) von Günther Förg reiht sich ein in die kunsthistorische Tradition des Treppensteigens – von Duchamp bis Richter – und wendet sich zugleich gegen die tradierte Form des Selbstporträts. Der Betrachter sieht den Künstler aus der Draufsicht ein Treppenhaus hinabsteigend. Doch der eigentliche Ausdrucksträger des Selbst, das Gesicht, ist nicht zu sehen. Die Fotografie beschneidet den Körper, der Kopf und damit die charakteristische Physiognomie fehlt.
Ein hellblauer Bonbonteppich
Viel deutlicher wird dieses Spiel von Anwesenheit durch Abwesenheit in der großartigen Arbeit von Felix Gonzalez-Torres. „,Untitled‘ (Revenge)“ (1991) sind 147,5 kg Eisbonbons, in klarem Cellophan verpackt, die als hellblauer Bonbonteppich auf dem dunkelgrauen Boden der Ausstellungshalle ausgebreitet sind und sich dem Besucher zum Verzehr anbieten - und man darf tatsächlich eines mitnehmen. Dabei handelt es sich um einen allzu ästhetischen Anblick, der die schmerzvolle Selbsterfahrung hinter dem Glanz der Süßigkeit kaum erahnen lässt. Dahinter verbirgt sich jedoch das Leid der AIDS-Erkrankung von Gonzalez-Torres und dessen Lebenspartner. Das Mitnehmen der Bonbons gleicht dem Verfall des Körpers – eine bittersüße Einsicht. Neben dieser biographischen Interpretation vermag es die Arbeit aber weitaus allgemeingültigere Aussagen über das Selbst zu treffen: Gonzalez-Torres zeigt, wie das Ich sich als Summe persönlicher Erfahrung konstituiert, und keineswegs ein a priori gegebenes Wesen ist. Besonders deutlich macht die Arbeit aber, wie das Selbst durch die Einwirkung von Außen geformt wird. Genau wie sich der Bonbonteppich durch die Einflussnahme des Betrachters kontinuierlich verändert, ist auch das Ich der ständigen Interaktion mit anderen Menschen unterworfen. Nach jeder Begegnung ist der Teppich ein anderer, jeder Betrachter ist auf seine Weise prägend.
Hochkarätig besetzt
Neben diesen abstrakten Arbeiten steht eine Reihe von Selbstporträts, die sich in traditioneller Weise mit dem Bildsujet auseinandersetzen. So zeigt sich Albert Oehlen mit zwei Totenschädeln und stellt in kunsthistorischer Tradition sein persönliches memento mori dar. Ebenso Franz West, der sich im Spiegel als Narziss erkennt. Dass die spiegelnde Fläche Teil eines Tisches ist, der wahrscheinlich nicht zufällig an die Tische des Österreichers erinnert: Der Künstler zeigt sich im Spiegel seiner eigenen Arbeit und bezeugt damit den spielerischen Umgang, den die zeitgenössische Kunst mit den Konvention kunsthistorischer Darstellungsmodi gefunden hat.
Die Ausstellung vermag es einen überaus spannenden Einblick in das aktuelle Selbstporträt zu geben. Zugleich ist es den Kuratoren dafür zu danken, dass sie der Sisyphus-Arbeit eines Überblicks widerstanden und sich auf wenige, dafür umso überzeugendere Positionen beschränkt haben. Die Präsentation gewinnt dadurch ungemein, wird doch der Künstler mit seiner ganz persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Identität gebührend gewürdigt. Nicht zuletzt besticht die Ausstellung durch ihre hochkarätige Besetzung. Vertreten sind Bas Jan Ader, John Baldessari, Joseph Beuys, Werner Büttner, Valie Export, Andrea Fraser, Günther Förg, General Idea, Isa Genzken, Gilbert & George, Felix Gonzalez-Torres, Martin Kippenberger, Imi Knoebel, Jeff Koons, Maria Lassnig, Bruce Nauman, Albert Oehlen, Palermo, Cindy Sherman, Katharina Sieverding, Andy Warhol und Franz West: 22-mal Ich.
Die Ausstellung „Jeder Künstler ist ein Mensch!‘ – Positionen des Selbstporträts“ ist noch bis zum 21. November 2010 in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden zu sehen.